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Verletzbarkeit und Verwundungen sind Teil des menschlichen Lebens. Eine heilende Weise, dem zu begegnen, ist die innere Aussöhnung. Unser Glück hängt davon ab, ob wir vergeben können.

Wir kommen nicht unverletzt durchs Leben. Immer wieder kränken wir andere Menschen und werden gekränkt. Manche dieser Wunden gehen tief und wollen einfach nicht heilen. Wie lässt sich mit Kränkungen umgehen, so dass sie einen nicht auf Dauer blockieren oder gar krank machen? Und wie können sie heilen, so dass wir erlittenes Unrecht nicht bewusst oder unbewusst an andere weitergeben und damit neues Leid erzeugen?

Dazu kann vieles verhelfen. Eine heilende Weise, den Verwundungen des Lebens zu begegnen, ist die innere Aussöhnung. Wer verzeiht, lässt - Schritt für Schritt - das Erlittene los und befreit sich so von dem, was ihm angetan wurde. Unser Lebensglück hängt entscheidend davon ab, ob wir vergeben können!

Verletzt zu werden, tut weh. Entsprechend liegt ein häufiger Schutzmechanismus darin, den Schmerz und die damit verbundenen Empfindungen abzuwehren. Doch wer eine Verletzung überspielt oder flieht, ist sie noch lange nicht los. Im Gegenteil: Gefühle und Erinnerungen, die nicht in der Helle des Bewusstseins gelebt werden, führen häufig ein höchst einflussreiches Schattenregiment. Das, was wir nicht zulassen, lässt uns nicht los - es hat uns in der Hand. Geben wir den dunklen Gefühlen hingegen Heimatrecht in uns, dann gehen wir einen entscheidenden Schritt auf dem Weg der inneren Aussöhnung.

Bedingungen zur Wundheilung

"Zeig deine Wunde“: So lautete der Titel einer Rauminstallation von Joseph Beuys im Lenbachhaus in München. Das zu sehende Krankenzimmer konfrontiert den Betrachter mit der eigenen Vergänglichkeit. Der Künstler kommentiert: "Zeige die Wunde, weil man die Krankheit offenbaren muss, die man heilen will.“ Beuys’ Installation gibt einen Wink, wie günstige Bedingungen zur Wundheilung aussehen: Eine äußere Wunde muss bluten können. Es muss Luft an sie herankommen und es braucht einen Verband, der regelmäßig gewechselt wird. Falsch behandelte Wunden hingegen können krank machen und etwa zu Entzündungen oder Blutvergiftung führen.

Auch seelische Verwundungen heilen nur, wenn man Luft an sie heran lässt und sie ans Licht kommen dürfen. Daher ist es wichtig, sich noch einmal um die oft allzu schnell zugepflasterte Wunde zu kümmern. Wer sich bewusst erinnert, wie das damals genau war, wird manchmal erst den tief sitzenden Schmerz spüren …

Der erste Schritt zur Heilung ist, innerlich zum "Ort“ des kränkenden Geschehens zurückzukehren und die eigene Wunde wahrzunehmen. Diese innere Reise weckt Unbehagen oder auch Angst. Denn wer mag sich schon an ein kränkendes Ereignis erinnern und es emotional nacherleben? Wer will sich schon gerne beschämt, ausgeliefert, ausgegrenzt fühlen …? Es kann äußerst unangenehm sein, sich der eigenen Verletzbarkeit zu stellen. Denn die Begegnung mit der eigenen Verwundbarkeit und Ohnmacht kratzt am Selbstbewusstsein.

Hier stellt sich mit aller Schärfe die Frage: "Warum das alles? Wäre es nicht besser, dass ich mich möglichst unverwundbar mache und auf diese Weise schmerzhafte Kränkungen vermeide?!“ Die gesellschaftliche Atmosphäre unserer Tage legt nahe, nur ja keine Blöße zu zeigen oder Schwäche erkennen zu lassen, sondern alle Anforderungen perfekt zu bewältigen. Dass dies bereits ein uralter Menschheits-Traum ist, zeigen zahlreiche Mythen und Märchen, die von Siegertypen und unschlagbaren Helden handeln.

Die Nibelungensage erzählt von Siegfried, dem Sohn eines mächtigen Königs, der schön, kraftvoll und mutig war. Ein Kampf mit einem bedrohlichen Drachen sollte ihn tödlich zu Fall bringen. Doch Siegfried verwandelte das, was ihn vernichten sollte, in einen Sieg: Er erschlug den Lindwurm und badete in seinem Blut. Dadurch wurde seine Haut zu festem Horn, das von keiner Lanze mehr durchdrungen werden konnte. Siegfried war - bis auf eine Stelle, die ihm später zum Verhängnis werden sollte - unverwundbar geworden und gewann alle Kämpfe. Ein Traum von einem Menschen!

Den Menschen Jesus schützt keine Drachenhaut, sondern er hat den Mut, seine Haut zu Markte zu tragen. Er ist berührbar und damit auch verwundbar. Er schlägt seine Gegner nicht zu Boden, sondern hebt die Logik von oben und unten, von Sieger und Besiegten, von Gewalt und Gegengewalt auf. Nicht die Unverwundbarkeit, sondern seine Liebesfähigkeit ist die Signatur seiner Menschlichkeit. Ein Traum von einem Menschen!

Im Nibelungenheld Siegfried und in Jesus von Nazaret begegnen uns zwei gegensätzliche Bilder, Mensch zu sein. Es ist unserer Freiheit überlassen, zwischen den verschiedenen Vorstellungen menschlicher Größe zu wählen - gerade auch im Umgang mit einer tiefen Kränkung. Zweifelsohne schulden wir es unserer Verletzbarkeit und unserer Selbstachtung, dass wir uns schützen und für uns einstehen, dass wir Grenzen ziehen und für unsere Rechte kämpfen.

Die Verletzbarkeit zulassen

Doch wer die "Zentralverriegelung Angst“ dauerhaft aktiviert, schiebt allen tieferen Beziehungen einen Riegel vor und wird unzugänglich für andere. Wer sich einen wehrhaften Panzer aus Stärke und Überlegenheit zulegt, der ist nicht mehr verletzbar. Er ist allerdings auch nicht mehr berührbar von der Liebe und Not einer anderen Person.

Es zeigt sich: Allein in dem Maß, in dem ich meine Verletzbarkeit zulasse und mich im vertrauten Kreis immer wieder auch verletzbar mache, in dem Maß bin ich beziehungsfähig. Umgekehrt füge ich mir und anderen großen Schmerz zu, wenn ich - aufgrund von Enttäuschungen "erwachsen“ geworden - es aufgebe, Nähe zuzulassen und das Wagnis neuen Vertrauens einzugehen.

Die Herausforderung, die eine Kränkung mit sich bringt, verweist auf eine grundlegende Aufgabe, die das Leben uns stellt. Das Leben nötigt uns zu lernen, mit Niederlagen und Verwundungen umzugehen und die eigene Verwundbarkeit und Schwäche anzunehmen. Dies gelingt in dem Maß, in dem wir uns angenommen wissen: Wo wir erfahren, dass zu uns ja gesagt wird auch dort, wo wir selbst oder andere uns ablehnen; wo wir spüren, dass wir uns schwach zeigen können, ohne dadurch beim anderen triumphierende Stärke zu provozieren. Eine solche Liebe erlöst von dem angstbesetzten Gefühl, nichts wert zu sein. Sie mindert jene Angst, die einen oft so leicht kränkbar macht und unversöhnlich stimmt. Diese Liebe befreit und erlöst.

Doch was verwandelt uns hin zu einem Leben, das auf Liebe gründet? Was oder wer ruft uns über uns hinaus und lockt uns, für Größeres zu leben als für das eigene Ich? Hier gibt es so viele Wege wie Menschen: Der Schrei nach Gerechtigkeit, die Geburt eines Kindes, der bittende Blick eines anderen, die vertraute Melodie eines alten Lieblingssongs, der Geruch eines geliebten Menschen, Schönheit, die sprachlos macht … - all das kann uns über uns selbst hinausführen. Zu Weihnachten feiern Christinnen und Christen das Geheimnis der verborgenen, verwundbaren und doch so wirksamen göttlichen Liebe im Antlitz eines Menschen.

Die Autorin ist Salvatorianerin u. leitet die Initiative IMpulsLEBEN

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