Zerfallen Wie eine Sandfigur

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VLADIMIR VERTLIB ERZÄHLT DEN WEG EINER JÜDISCHEN FAMILIE AUS DER SOWJET-UNION NACH ÖSTERREICH.

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VLADIMIR VERTLIB ERZÄHLT DEN WEG EINER JÜDISCHEN FAMILIE AUS DER SOWJET-UNION NACH ÖSTERREICH.

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"Dreißig Jahre lang hatten mein Vater und sein bester Freund Schimon nicht miteinander geredet. Schimon schickte Vater nach fünfzehn Jahren des Schweigens eine Ansichtskarte, auf der die Klagemauer abgebildet war. Vater antwortete mit einer Karte, die den Wiener Heldenplatz und die Hofburg zeigte." Nun ist der Vater des Ich-Erzählers schon lange tot und Vladimir Vertlibs Alter Ego macht sich anlässlich einer Lesereise nach Israel daran, diesem Zerwürfnis auf den Grund zu gehen und dabei grundlegende Fragen nach der jüdischen Identität zu stellen.

Der Kunstgriff der Lesereise, auf welcher der Autor Kapitel des vorliegenden Romans präsentiert, erlaubt Zeitsprünge, ohne dass die Erzählgegenwart dazu verlassen werden müsste. Die Rückblenden erzählen von der zehnjährigen Odyssee einer jüdischen Familie, die Anfang der 70er Jahre aus der Sowjetunion emigriert und sich nach zahlreichen Ortswechseln schließlich in Österreich endgültig niederlässt, obwohl das Österreich der Waldheim-Ära und des aufstrebenden Jörg Haider nicht unbedingt ein Wohlfühlort ist.

Autobiographisch?

Der Vater versinkt in Lethargie, doch zumindest die Mutter kann halbwegs Fuß fassen und der Sohn studiert. Das Gefühl des Fremdseins aber bleibt und die Rolle des nirgends richtig beheimateten Kosmopoliten eine milde Lebenslüge, die ihren Preis fordert. Konfrontiert mit Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit schweigt er oft, "weil ich mich in der Rolle des sympathischen und netten Ausländers und Juden bequem eingerichtet hatte, ein Zuwanderer, den alle lobten, weil er sauber war und besser Deutsch sprach als die türkischen Gastarbeiter, ein Fremder, der im Alltag nicht auffiel und dankbar lächelte, wenn er gelobt wurde".

Aber haben wir es hier wirklich mit einem autobiographischen Text zu tun? Der Autor legt sich nicht eindeutig fest: "Seit ich Tagebuch führte, wusste ich, dass die Realität der Welt vielschichtiger war als die Realität der Fakten. Deshalb erfand ich gerne Geschichten, ohne dabei dem Wunsch nachzugeben, die Ergebnisse so niederzuschreiben, wie ich sie gerne erlebt hätte." Denn es gibt keine Wahrheit, "der nicht eine Lüge schützend voranschreitet. Man braucht nur zwei wahre Sätze aneinanderzureihen und einen dritten auszusparen."

Die verschiedenen Facetten der Wahrheit zeigen sich beim Konflikt zwischen dem Vater und Schimon. Als antipodisch angelegte heimliche Hauptfiguren verkörpern sie zwei unterschiedliche Lebensprinzipien. Beide waren früher zionistische Aktivisten, doch während Schimon verhaftet wurde und neun Jahre in sibirischer Lagerhaft verbrachte, konnte der Vater unbehelligt mit seiner Familie aus der Sowjetunion ausreisen. "Israel war der Sehnsuchtsort meines Vaters gewesen. [...] Als er sein Ziel schließlich erreicht hatte, zerfiel die Sehnsucht wie eine Sandfigur zwischen seinen Fingern."

Zwei Mal bricht der Vater den Versuch, in Israel Fuß zu fassen, wieder ab. Er ist dermaßen enttäuscht vom Kapitalismus und von Israel, dass er sogar einen Antrag auf Remigration stellt: ein nicht mehr gutzumachender Fehler mit fatalen Konsequenzen! Der agile Schimon hingegen, der in Israel Karriere gemacht hat, verkörpert als israelischer Patriot das schiere Gegenteil. In seinen Augen hat der ehemals beste Freund die gemeinsame zionistische Idee verraten. "Wie konnte ein Jude sein Land wieder verlassen und in die Diaspora zurückkehren?"

Konflikt bleibt

Der alte Konflikt bleibt in der Schwebe. Zu verstehen sind beide Positionen; trotzig auf eine Entschuldigung des jeweils anderen zu warten, war aber keine gute Strategie. Im Dialog wäre wohl eine Aussöhnung möglich gewesen, ohne dass alle Widersprüche ausgeräumt hätten werden müssten. Mosche und Khalil, ein Jude und ein christlicher Palästinenser, die schon lange befreundet sind, führen das in ihren endlosen Streitgesprächen über den Nahostkonflikt exemplarisch vor. - Resümee des Autors: "Nur ein Diaspora-Jude mit Migrationshintergrund, der in einem Land wie Österreich lebt, kann einen Palästinenser wirklich verstehen."

Schimons Schweigen Von Vladimir Vertlib. Deuticke 2012.272 S., geb., € 20,50

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