In der Geographie Europas ist Österreich nach vielen Jahrzehnten vom Grenzland zum Brückenland geworden. In wenigen Tagen übernimmt es turnusgemäß den Ratsvorsitz in der Europäischen Union ... Ich hoffe, daß Schritte gelingen, um den Westen und den Osten dieses Kontinents einander näher zu bringen, jene beiden Lungen, ohne die Europa nicht atmen kann.
Die Verschiedenheit der östlichen und westlichen Traditionen wird die Kultur Europas bereichern sowie durch deren Bewahrung und gegenseitige Ausleuchtung als Grundlage für die ersehnte geistige Erneuerung dienen. Deshalb sollte vielleicht weniger von einer "Osterweiterung" als vielmehr von einer "Europäisierung" des gesamten Kontinents die Rede sein.
Wir dürfen auch nicht vergessen, daß europäische Geschichte eng mit der Geschichte jenes Volkes verflochten ist, aus dem Jesus Christus hervorgegangen war. In Europa wurde dem jüdischen Volk unaussprechliches Leid zugefügt. Wir können nicht unbedingt davon ausgehen, daß alle Wurzeln dieses Unrechts unwiederbringlich ausgerissen sind. Aussöhnung mit den Juden gehört also zu den Grundpflichten gerade für die Christen in Europa.
Noch eine weitere große Aufgabe stellt sich den Baumeistern Europas: aus einer westeuropäischen Wohlstandsinsel eine gesamteuropäische Zone der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens zu schaffen. Materielle Opfer werden für die wohlhabenderen Länder unvermeidlich sein, um das unmenschliche Wohlstandsgefälle innerhalb Europas allmählich abzuflachen. Daneben ist geistige Hilfe nötig, um den weiteren Aufbau demokratischer Strukturen und deren Festigung voranzutreiben.
Die Rede von der Globalisierung ist heute im Munde vieler, die sich den ökonomischen Prozessen in großen Dimensionen widmen. Wenn die Regionen der Welt wirtschaftlich zusammenrücken, soll dies allerdings nicht mit einer Globalisierung an Armut und Elend verbunden sein, sondern in erster Linie mit einer Globalisierung an Solidarität.
Außerdem erinnere ich an die Bereitschaft Österreichs, seine Türen Menschen aus anderen Ländern zu öffnen, die dort ihrer Religionsfreiheit, ihrer Freiheit der Meinungsäußerung oder der Achtung ihrer Menschenwürde beraubt sind. Auch meine Landsleute haben Ihnen in der Vergangenheit viel zu verdanken. Bleiben Sie der guten Tradition dieses Landes treu! Bewahren Sie sich auch weiterhin die Bereitschaft, Ausländer aufzunehmen, die ihre Heimat verlassen mußten!
Auszüge aus der Rede des Papstes vor dem Diplomatischen Korps in der Wiener Hofburg am 20. Juni 1998.
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