Zufall, Lust und Fülle

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Obwohl das Glück im Leben eine große Rolle spielt, gibt es keine klare Definition dieses Zustandes. Wilhelm Schmid beschreibt die drei Arten, denen man auf der Suche nach dem Glück begegnen kann.

Am Glück, so scheint es, führt kein Weg mehr vorbei. Buch um Buch erscheint zu diesem Thema, jedes mit einer eigenen "Glücksformel" ausgestattet, die angepriesen wird und manche glücklich macht, manche auch nicht. Vor ein paar Jahren, an der Wende zum neuen Jahrhundert, konnte man noch davon träumen, dass vielleicht die uno sich dieses Themas annehmen würde. Denn es werden ja häufig Jahre ausgerufen: Jahr des Kindes, Jahr der Frau und so weiter - wäre es nicht denkbar gewesen, dass die uno die Gelegenheit beim Schopf packt und das ganze 21. Jahrhundert zu einem Jahrhundert des Schweigens über das Glück erklärt? Der Vorteil wäre gewesen, dass anstelle der Glückshysterie eine ruhigere Nachdenklichkeit darüber eingesetzt hätte, was mit "Glück" eigentlich gemeint ist. Brauchen wir wirklich Glück fürs Leben? Könnte es sein, dass Menschen sich unglücklich fühlen, weil sie glauben, glücklich sein zu müssen?

Nun sind wir mitten drin, sowohl im 21. Jahrhundert als auch im unablässigen Reden über das Glück. Aber was ist eigentlich Glück? Wichtig erscheint die Einsicht, dass "Glück" zunächst nichts weiter ist als ein Begriff, und gerade mit diesem Begriff kann ganz Verschiedenes gemeint sein. Was letztlich darunter zu verstehen sein soll, legt das jeweilige Individuum für sich selbst fest; eine verbindliche, einheitliche Definition gibt es nicht. Aber eine Auseinanderlegung des Begriffs kann vielleicht für jeden einzelnen zur Klärung beitragen, um die Frage zu beantworten: Was bedeutet Glück für mich? Beim genaueren Hinsehen zeigt sich, dass drei Ebenen im Spiel sind, die auseinander zu halten sinnvoll scheint.

1. Das Zufallsglück

Das deutsche Wort "Glück" rührt vom althochdeutschen gelücke her und hat viel mit dem Schicksal zu tun, das so oder auch anders ausfallen kann. Die Zufälligkeit dieses Glücks prägt den Begriff im Deutschen bis heute. Im Griechischen war dies einst tyche, im Lateinischen fortuna, erhalten als fortune, französisch oder englisch ausgesprochen und in aller Regel mit dem günstigen und erwünschten Zufall in Verbindung gebracht. Offen ist die Frage und wird es wohl bleiben, ob die Zufälle "Sinn" haben, ob sie einer Vorherbestimmung oder Vorsehung folgen. Jedenfalls kennen die Zufälle erstaunliche Regelmäßigkeiten, auf glücklicher wie auf unglücklicher Seite, und sie scheinen sich jeweils aufzuschaukeln, bis sie sich wieder von selbst in ihr Gegenteil verkehren.

Wesentlich am Zufallsglück ist seine Unverfügbarkeit. Verfügbar ist lediglich die Haltung, die der Einzelne dem Zufall und dem zufälligen Schicksal gegenüber einnimmt: Er oder sie kann sich verschließen oder offen dafür sein; im Inneren wie im Äußeren lässt sich die Konstellation präparieren, in der ein Zufall sich verfangen kann. Die Haltung der Offenheit, besser bekannt unter dem Namen "Spontaneität", ist verbunden mit der Wachsamkeit, um den rechten Augenblick zu erkennen und zu ergreifen. Die Offenheit scheint das quantenhafte Zufallsglück zu beflügeln: Es macht gerne dort Station, wo es sich gut aufgehoben fühlt und nicht noch Vorwürfe zu hören bekommt, dass es "momentan nicht passt".

2. Das Wohlfühlglück

In moderner Zeit wird der Begriff des Glücks in wachsendem Maße über das so genannte Positive definiert: das Angenehme, die Lüste, das Wohlfühlen, die guten Empfindungen - ein Glück auf körperlicher und seelischer Ebene. Die grundlegende Definition hierzu stammt von Utilitaristen wie Jeremy Bentham im 18. Jahrhundert: Glück ist Maximierung von Lust und Minimierung von Schmerz. Kaum eine philosophische Auffassung hat sich dermaßen durchgesetzt wie diese. Die moderne Spaß- und Erlebnisgesellschaft ist ohne das Streben nach Glück in diesem Sinne nicht denkbar. Das Wohlfühlglück ist keineswegs verwerflich, aber es hat seine Zeit, es hält glückliche Augenblicke bereit, für die das Individuum sich offen halten und die es auch selbst präparieren kann: Augenblicke, um derentwillen das Leben sich lohnt und die sich nahezu jeden Tag finden lassen. Man kann die Ingredienzen dieses Glücks suchen, sie kennen und an ihrer Bereitstellung arbeiten. Man kann sich wohlfühlen aufgrund eines Gelingens, eines Erfolges.

Es ist aber die philosophische Lebenskunst, die uns davor bewahren kann, das gesamte Leben mit einem einzigen Wohlfühlglück zu verwechseln. Beizeiten stellt sie uns darauf ein, dass es noch andere Zeiten geben wird, dass nicht alles jederzeit lustvoll ist und völlige physische und psychische Schmerzfreiheit nicht erreicht werden kann. Das Glück nur in der Lust zu suchen erscheint sogar als der sicherste Weg, unglücklich zu werden, denn die Lust dauert nicht; jede und jeder kann das zu allen Zeiten leicht in Erfahrung bringen: Die Lust des Essens, des Trinkens, auch die des Bettes ist ein schöner Moment, eine selige Erfahrung, aber sie hält nicht vor, das gehört zu ihrem Wesen. Und umgekehrt Schmerzen ausschalten zu wollen, führt nicht nur zum Verlust der Kontrasterfahrung, die die Lust erst fühlbar macht, sondern zum Verlust der Orientierung im Leben. Denn Schmerzen sind der Stachel, der immer aufs Neue zum Nachdenken über das gesamte Leben nötigt; der Schmerz zwingt die Sorge herbei, die uns wieder auf den Weg zu bringen vermag. Es muss noch eine dritte Ebene des Glücks geben, die das mit einbeziehen kann.

3. Das Glück der Fülle

Was dabei mit Fülle gemeint ist, könnte missverstanden werden. Es besteht nicht so sehr darin, dass alles in Erfüllung geht, was nur wünschbar ist. Glück kann sogar darin bestehen, auf die Erfüllung von Wünschen gänzlich zu verzichten: Aus guten Gründen sprechen wir manchmal davon, dass wir "wunschlos glücklich" sind. Aber das Glück der Fülle hat noch eine umfassendere Bedeutung: Glück, so ist damit gemeint, geht

nicht etwa darin auf, nur eine Seite des Lebens, nämlich die des Angenehmen, Lustvollen und Positiven, kennen zu lernen. Glück als Fülle des Lebens umfasst immer auch die Seite des Unangenehmen, Schmerzlichen und Negativen. Das erfüllte Leben ist dann gleichsam das Atmen zwischen den Polen des Positiven und Negativen, die gesamte Weite der Erfahrungen zwischen Gegensätzen und Widersprüchen, die den profunden Eindruck vermitteln, wirklich zu leben und das Leben voll und ganz zu spüren. Wodurch sollte dieses Glück jemals in Frage gestellt werden? Was zur Fülle dieses Lebens beiträgt, bestärkt das Glück, geschwächt wird es nur durch die Vereinseitigung der Erfahrung, meist nach der Seite des Angenehmen hin, die am ehesten festzuhalten versucht wird.

Das Glück der Fülle ist nicht einfach nur "Fröhlichkeit", es ist umfassender und dauerhafter als alles Zufallsglück und Wohlfühlglück: Das ist das eigentlich philosophische Glück, nicht abhängig von bloßen Zufällen und momentanen Empfindungen, vielmehr die immer aufs Neue zu findende Balance in aller Polarität des Lebens, nicht unbedingt im jeweiligen Augenblick, sondern durch das gesamte Leben hindurch: Nicht nur Gelingen, auch Misslingen; nicht nur Erfolg, auch Misserfolg; nicht nur Lust, auch Schmerz. Paradoxie dieses Glücks: Es umfasst keineswegs nur das Glücklichsein, sondern ebenso das Unglücklichsein. Zu seiner Fülle gehört das Bewusstsein der Abgründigkeit, ansonsten steht es in der Gefahr bloßer Oberflächlichkeit. Über die Endlichkeit hinaus unterhält es einen Bezug zur Unendlichkeit, säkular oder religiös. Dieses Glück der Fülle ist eine Frage der bewusst eingenommenen Haltung, in Heiterkeit und Gelassenheit kommt es am besten zum Ausdruck: Das ist der "gute Geist", von dem die antike, griechische Eudaimonia ihren Namen hatte. Keine der genannten Ebenen des Glücks, Zufallsebene, Gefühlsebene, geistige Ebene, erscheint verzichtbar. Das dritte Glück aber ist das einzige, das dauerhaft sein kann.

Der Autor ist Professor für

Philosophie in Erfurt und

Gastdozent in Tiflis.

www.lebenskunstphilosophie.de

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