7101597-1995_13_23.jpg
Digital In Arbeit

Zur religiösen Situation der Zeit

Werbung
Werbung
Werbung

Warum gerade jetzt ein großes Buch über das Christentum, das noch dazu „Wesen und Geschichte” erfassen will? Niemand anderer als Hans Küng stellt diesen Anspruch, noch dazu, um „die religiöse Situation der Zeit zu erfassen” - denn eine große Krise des Christentums mache eine große Antwort dringend nötig. Und um in Küngs Diktion zu sprechen: Diese Antwort soll radikal ausfallen. Sie will keine christliche Tradition und Kirche vor Kritik verschonen und Katholizismus, Orthodoxie, Protestantismus und Anglikanismus ohne Kompromisse und Harmonisierung mit der ursprünglichen Botschaft konfrontieren, um auf diese Weise einen ökumenischen Dienst zu leisten. Dieses Buch versteht sich von vorneherein als kirchenkritisch sein, weil es aus dem Glauben an Person und Sache Jesu Christi heraus geschrieben ist und weil es will, daß es die Kirche Jesu Christi auch im dritten Jahrtausend noch gibt.

Angesichts so massiver Affirmation und erklärter Absicht darf wohl die Gegenfrage auch gestellt werden: Kann man der christlichen Sache überhaupt noch vertrauen? Muß man angesichts des dritten Jahrtausends nicht am Christentum verzweifeln? Hat das Christentum nicht zumindest in den europäischen Stammländern an Verständlichkeit und Glaubwürdigkeit verloren? Gibt es heute nicht mehr denn je Trends weg vom Christentum: hin zu östlichen Religionen, hin zu Polit- und Erfahrungsgruppen aller Art, oder auch nur hin ins bequeme Private ohne alle Verpflichtungen? Verbinden nicht viele auch in unseren „christlichen” und besonders katholischen Landen Christentum mit machtgieriger und uneinsichtiger Amtskirche, mit Autoritarismus und Lehrdiktatur, mit Angsterzeugung, SexuaUtomplexen, Dialogverweigerung und so oft genug - sagen wir es direkt - einem menschenverachtendem Umgang mit Andersdenkenden? Wird insbesondere die katholische Kirche nicht mit Frauendiskriminierung identifiziert, wenn Rom Frauenordination (wie auch Priesterrehe, Empfängnisverhütung...) „endgültig” verbieten möchte? Und ist angesichts solcher Korrekturunfähigkeit die frühere, mehr oder weniger wohlwollende Gleichgültigkeit gegenüber dem Christentum mancherorts nicht in Gehässigkeit, j ^offene Feindschaft umgeschlagen?

Was aber ist überhaupt „das Christentum”? Gibt es überhaupt das Christentum und nicht nur verschiedene „Christentümer”: das östlichorthodoxe, das römisch-katholische, das reformatorisch-protestantische Christentum, von den verschiedenen freikirchlichen Christentümern und all den ungezählten christlichen Sekten und Gruppierungen ganz zu schweigen? Was das Christentum ist, löst in aller Welt höchst widersprüchliche Empfindungen aus. Was ist nicht alles „Christentum”... Selbst Christen fühlen ein tiefes Unbehagen. Welche Institutionen, Parteien und Aktionen, welche Dogmen, Rechtssätze und Zeremonien tragen nicht alle das Etikett „christlich”. Und wie oft in der Geschichte ist das Christliche vernachlässigt, verschleudert, ja, verraten worden! Wie oft wurde es gerade auch durch die Kirchen vernachlässigt, verschleudert, ja, verraten. Statt Christentum nur Kirchentum. Statt christlicher Substanz und christlichem Geist römisches System, protestantischer Fundamentalismus oder orthodoxer Traditionalismus.'

Und wozu dies alles? Um die Gegenwart tiefer zu verstehen. Obwohl das umfangreiche Opus natürlich nicht ohne ausführliche historische Reminiszenzen auskommt, interessiert nicht die Vergangenheit als solche, sondern wie und warum das Christentum das geworden ist, was es heute ist — im Hinblick darauf, wie es sein könnte. Nicht die reine Chronologie ist das Spezifikum dieser Art Geschichtsschreibung, sondern die Zeit- und Problemver-schränkung.

Auf zahllose interessante Einzelheiten, reizende Anekdoten und wichtige Aspekte mußte verzichtet werden, um bei der immer wieder veränderten geschichtlichen Einstellung die notwendige Schärfe zu erreichen. Nach einer ausführlichen Einleitung zu „Wesen” und „Zentrum” des Christentums (17-88), legt Hans Küng seiner Darstellung das den Naturwissenschaften (Thomas S. Kuhn) entlehnte und von ihm in diversen Publikationen auch in die Theologie eingeführte Schema des Paradigmas bzw. des Paradigmenwechsels als strukturierendes Prinzip zugrunde und erreicht damit eine hohe Konzentration auf die großen Gesamtkonstellationen oder Paradigmen, ohne sich in Details zu verlieren: Ausführlich zu Wort kommen das jüdisch-apokalyptische Paradigma des Urchristentums (I, 89 ff.), das ökumenisch-hellenistische des christlichen Altertums (P II, 145 ff.), das römisch-katholische des Mittelalters (P III, 336 ff.), das protestantisch-evangelische der Reformation (P IV, 602 ff.) und schließlich das vernunft-und fortschrittsorientierte Paradigma der Moderne (P V, 742 ff).

Auf dem Hintergrund der knapp skizzierten geschichtlichen Entwicklung werden die Bedingungen, Gründe und Zwänge, die Konstanten und Variablen herausgearbeitet, um so das zeitgenössisch-ökumen ische Paradigma (P VI) als nach-mo-dern in seinen Grundzügen zu sichten und anzupeilen. Und da die älteren Paradigmen bei der Heraufkunft des neuen nicht etwa absterben, sondern sich parallel zum neuen Paradigma weiterentwickeln und dann vielfach ineinandergreifen, sind kleinere Überschneidungen nicht nur unvermeidlich, sondern durchaus von Nutzen.

Für das letzte, das nach-moderne Paradigma kann Küng in den letzten Abschnitten zu P V nur Grundzüge andeuten, zumal darüber ebenso wie über den Einfluß und die Eigenbedeutung der außereuropäischen Kontinente und Kulturen ein eigener Band geplant ist. Darüberhinaus kündigt er die Fertigstellung einer Trilogie zur „religiösen Situation der Zeit” an - nach dem Buch über „das Judentum” (1991) über das Christentum (1994) soll noch eines über den Islam folgen.

Ein ausführlicher Anmerkungsteil, viele Verzeichnisse und Tafeln und das Personenregister erschließen den Band, der zweifellos für Kontroverse und Gewissenserforschung sorgen muß.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung