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Beitritt um zehn Jahre zu früh

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Nur im Westen Österreichs wird der Bürger in den Segen der Grenzenlosigkeit kommen. Im Osten dürfte sich dieser Traum erst später erfüllen.

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Nur im Westen Österreichs wird der Bürger in den Segen der Grenzenlosigkeit kommen. Im Osten dürfte sich dieser Traum erst später erfüllen.

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Im Grunde genommen tritt Österreich um mehr als zehn Jahre zu früh der Schengen-Zone bei. Sollte es nicht noch im letzten Moment unliebsame Überraschungen geben, werden am 24. Juni in Lissabon die Schengen-Innenminister Osterreich in den harten Kern aufnehmen. Die Grenzbalken zur Schengen-Zone sollten am 27. Oktober demontiert werden. Dem Raum ohne Binnengrenzen gehören zur Zeit sieben Staaten (Deutschland, Frankreich, Benelux, Spanien, Portugal) an.

Die geographische Lage bringt es mit sich, daß Schengen in Österreich nicht jene revolutionäre Freiheit für Normalbürger bringen wird, wie dies im Westen Europas im Frühjahr 1995 der Fall war. Seit zwei Jahren passiert man etwa von Belgien aus die Grenze zu den Nachbarn, ohne den Fuß vom Gaspedal nehmen zu müssen. Auch bei Flügen bleibt der Paß in der Jacke oder in der Tasche.

Dabei ist es - nebenbei bemerkt -unerheblich, ob man die belgische, die österreichisehe, die bulgarische oder die kongolesische Staatsbürgerschaft besitzt. Bei Reisen innerhalb des Schengen-Raums sind alle Personen gleichgestellt.

Österreich kämpft mit dem Handikap, daß der Bürger nur im Westen der Republik in den Segen der „Grenzenlosigkeit” kommt. Im Osten und im Süden dürfte sich dieser Traum erst in zehn Jahren erfüllen. Dann sollen Länder wie Slowenien, Tschechien und Ungarn die Schengen-Reife besitzen. Ab Herbst beginnt beziehungsweise endet an Österreichs mehr als tausend Kilometer langer Ostgrenze der Raum ohne Schlagbaum. Wer dann in Berg, Nickelsdorf oder Spielfeld einreist, braucht bei der Weiterfahrt bis nach Lissabon keinen Ausweis mehr vorzuweisen.

Die Verwirklichung des freien Personenverkehrs wurde im Juni 1985 auf einem Schiff, das im luxemburgischen Ort Schengen an der Mosel vor Anker lag, aus der Taufe gehoben. Die Gründerväter sind Deutschland, Frankreich und die drei Benelux-Staaten. Bis zur Verwirklichung des Konzeptes dauerte es genau bis zum März 1995, also zehn Jahre. Vor allem Ende der achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre sorgte Schengen im Westen Europas für zum Teil schwere politische Turbulenzen. Dies ist verständlich, zählt doch die Grenzsicherung - neben der Polizei, dem Zoll, der Justiz und dem Militär - zu jenen Bastionen, die souveräne Nationalstaaten als letzte auf dem Altar der internationalen Kooperation opfern. Mehrfach mußte das Projekt verschoben werden. Schengen war eine schwere Geburt.

Aus der Sicht der EU hat Schengen einen schweren Schönheitsfehler. Das Abkommen steht rechtlich außerhalb des EU-Rahmens. Dies lag vor allem am Widerstand Englands, Irlands und Dänemarks, die - aus grundsätzlichen Gründen - mit Schengen nichts im Sinn haben. In diesen Tagen ist aber Schengen wieder hoch im Kurs. Bei der laufenden EU-Reformkonferenz, die Mitte Juni in Amsterdam zum Abschluß gebracht werden soll, wird zur Zeit der Versuch unternommen, das Abkommen doch in den Maastrichter Vertrag einzufügen. Das Konzept der Flexibilität, das EU-Mitgliedsstaaten das Werkzeug in die Hand gibt, auch im kleineren Kreis eine Kooperation einzugehen, macht's möglich.

In Österreich wird Schengen unter dem Eindruck der Randjage diskutiert. An sich sollte die Einbindung in die Zone keine längeren Wartezeiten an der Ostgrenze zur Folge haben. Zwar muß jeder Reisende einzeln kontrolliert werden, doch sehen die Bestimmungen vor, daß die Übertrittsstellen entsprechend adaptiert werden müssen. So ist von der Anlegung mehrerer Fahrspuren die Rede, wobei EU-Bürgern eine spezielle Spur zugewiesen werden muß. Vor allem sollte die Überprüfung der Identität nur wenige Sekunden dauern. Alle Grenzstationen sind an den Schengen-Supercomputer angeschlossen, der mit Hunderttausenden Daten gefüllt ist. Die Horrorstaus an Österreichs Ostgrenze vor einem Jahr haben schon deshalb nichts mit Schengen zu tun, da damals die Übertrittsstellen nicht mit dem „Superhirn” verkabelt waren.

Die Kontrolle an der Außengrenze und der Wegfall der Binnengrenze sind nur ein Teil des Schengen-Begi-mes. Schengen sieht auch die Vereinheitlichung des Visasystems vor - mit einer Liste jener Staaten, die ein Visum benötigen. Ab Herbst gilt dann ein österreichisches Einreisevisum für die gesamte Zone. Geregelt ist auch nach dem Erstlandsprinzip - die Asylpolitik.

Als Kompensation für die Beseitigung der Kontrolle im Inneren wird die grenzüberschreitende Zusammenarbeit und der Informationsaustausch zwischen der Polizei sowie den Zoll- und Justizbehörden verstärkt. Eine Fülle von Maßnahmen ist hier vorgesehen. Spektakulär, wenn gegenwärtig auch ohne Bedeutung, ist die „Nacheile”, die Polizisten das Recht einräumt, bei der Verfolgung von Verdächtigen bis zu 30 Kilometer ins Nachbarland vorzudringen. In Hinkunft sollen übrigens auch Strafzettel aus dem Schengen-Ausland Verkehrssündern in die Heimat nachgeschickt werden.

Schengen ist noch lange nicht perfekt. Dies geht etwa aus den Jahresberichten hervor, die vom Brüsseler Exekutiv-Büro veröffentlicht werden. So gibt es etwa Probleme bei der Einreise per Schiff, bei der einheitlichen Anwendung der Visa-Verordnung, bei der Lastverteilung im Asylbereich. Aber auch die Zusammenarbeit zwischen den Polizei- und Justizstellen (Auslieferung, Rechtshilfe, Vollstreckung von Strafurteilen) läßt zu wünschen übrig. Auch agierten die einzelnen Grenzstationen nicht gleich effektiv, so der Bericht.

Ab Oktober sollte die Schengen-Zone bereits zehn Länder umfassen. Die Ausdehnung des Raums ohne Grenzen dürfte parallel zur Erweiterung der Union realisiert werden.

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