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Bewußte Vernebelungstaktik

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Vieles im gegenwärtigen Steuersystem entbehrt jeder Logik und trifft vor allem die Familien.

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Vieles im gegenwärtigen Steuersystem entbehrt jeder Logik und trifft vor allem die Familien.

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Wolfgang Schmitz hat überzeugend dargelegt (FURCHE 42/1994), daß unser Steuersystem die Familien ungerecht behandelt. Er weist nach, daß heute Ehepaaren mit Kindern das Exi-stenzminimum besteuert wird - ein wahrlich bedrückender Gedanke! In Anknüpfung an seine Untersuchung soll die Betrachtung noch weiter ins Grundsätzliche fortgeführt werden. Dabei sind wesentliche Mängel der geltenden Einkommensbesteuerung insgesamt aufzuzeigen.

Ein fundamentales Prinzip der Steuergerechtigkeit ist, daß mit dem Ausmaß der Abgabenbelastung auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des einzelnen Rücksicht zu nehmen ist. Die kommt in zweifacher Weise zum Ausdruck. Zunächst darf der Staat all das nicht der direkten Besteuerung unterwerfen, was die Deckung des Lebensbedarfs unbedingt erfordert, also das von Schmitz erörterte Existenzminimum. Weiters nimmt der Steuertarif auf die Leistungskraft des einzelnen Rücksicht, indem er die Prozentsätze des Zugriffs nach der Höhe des (steuerpflichtigen) Einkommens abstuft. Er setzt also die Steuerprogression fest.

Derzeit gilt, daß die ersten 50.000 Schilling des Jahreseinkommens mit zehn Prozent besteuert werden, die nächsten 100.000 Schilling mit 22 Prozent und die darüber liegenden 150.000 Schilling mit 32 Prozent. Weitere Einkommensbestandteile über 300.000 Schilling pro Jahr werden mit 42 Prozent belastet, und der Tarif endet mit 50 Prozent, also der Halbierung des Einkommens, soweit es 700.000 Schilling übersteigt.

Bei Betrachtung dieser Regelung im Einkommensteuergesetz (Paragraph 33) fällt auf, daß der gestaffelte Tarif selbst kein Existenzminimum vorsieht. Die Abgabenpflicht beginnt also schon ab dem ersten Schilling. Die Besteuerung von kleinsten Einkommen wird nur dadurch vermieden, daß bestimmte Absetzbeträge die errechnete Steuerpflicht wiederum verringern. So gibt es einen „allgemeinen Steuerabsetzbetrag“ von jährlich 8.840 Schilling.

Mit anderen Worten: Zunächst unterwirft der Staat auch das Lebensnotwendige der Abgabenpflicht. Erst in einem weiteren Schritt erläßt er die Steuer wieder, und zwar bis zu einer von ihm festgelegten Höhe. Das läßt tief blicken. Einem solchen System liegt eine ganz bestimmte gesellschaftspolitische Sicht zugrunde. Sie stellt nicht die Steuerfreiheit des Existenzbedarfs in den Vorder-grund, sondern gleichsam die Gnade des staatlichen Verzichts auf einige tausend Schilling Abgaben pro Jahr.

Diese Vorgangsweise löst aber Folgen aus, die unser Steuersystem betragen zurück. Wie bereits erwähnt, müssen sie so festgesetzt werden, daß eine unerwünschte Besteuerung des Existenzminimums im Ergebnis unterbleibt. Scheinbar ist es ja egal, ob man ein steuerfreies Einkommen bezieht oder einer Steuerpflicht unterworfen wird, die aber dann wieder erlassen wird. Der politische Effekt ist aber wesentlich. Der Blick für ein „echtes“ steuerliches Existenzminimum geht verloren.

Mit den Absetzbeträgen kann man in der weiteren Folge sehr willkürlich vorgehen. Tatsächlich existiert heute ein Katalog solcher Nachlässe, die jeder Logik entbehren. Sie sind Produkt der Absicht, das „Geschenk“, das in der Rückgabe pflichtiger Steuer liegt, nach politischen Gesichtspunkten zu bestimmen. Auf der Strecke bleibt aber die Steuergerechtigkeit.

ABSURDITÄT VON REGELUNGEN

Ein typisches Beispiel dafür ist der „Verkehrsabsetzbetrag“ für Arbeitnehmer von 4.000 Schilling pro Jahr. Er gebührt neben dem Arbeitnehmerabsetzbetrag von 1.500 Schilling und soll „pauschal die Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte abgelten“. Dies ist eine mehr oder weniger fromme Lüge. Fahrtkosten zur Arbeit sind typische Werbungskosten. Sie wären daher so zu berücksichtigen wie alle sonstigen Werbungskosten, nämlich als freie Beträge, die vor Erfassung des steuerpflichtigen Einkommens abgezogen werden.

Man geht aber so vor, daß stattdessen die volle Steuer so berechnet wird, als ob der Arbeitnehmer keine Fahrtkosten zur Erzielung seines Lohnes aufwenden müßte. Dann Dienst nur um die Ecke gehen oder durch die halbe Stadt gondeln muß. Die totale Unlogik dieses Absetzbetrages läßt sich leicht nachweisen. Zunächst müßte ein Durchschnitts- Verdiener aufgrund des bei ihm anzuwendenden Grenzsteuersatzes von 32 Prozent mehr als 12.500 Schilling, ein Kleinverdiener sogar mehr als 18.000 Schilling, pro Jahr etwa für Straßenbahnfahrscneine aufwenden, damit sich eine Steuerminderung um 4.000 Schilling ergäbe.

Die Absurdität der Regelungen ergibt sich aber vor allem daraus, daß der Verkehrsabsetzbetrag auf Heller und Pfennig auch bei Pensionisten angewendet wird. Er schlüpft hier nur in die Maske eines „Pensionistenabsetzbetrages“, beträgt 5.500 Schilling pro Jahr und entspricht damit genau dem Arbeitnehmerabsetzbetrag und Verkehrsabsetzbetrag zusammen. Pensionisten fahren aber bekanntlich eher selten zur Arbeit.

Warum beschreitet man solche verschlungene und jeder Logik entbehrende Wege? Die Absicht ist klar und wurde bereits erwähnt. Der Weg einer korrekten Ermittlung dessen, was dem einzelnen zum Leben bleibt, wird bewußt verlassen. Man kann so Nachlässe verteilen, wie man es für richtig hält, und sie als noble Steuersenkung verkaufen.

Verschwiegen wird aber dabei die Wirkung, daß nach dem Ausnützen aller dieser Absetzbeträge der Steuertarif gnadenlos zuschlägt. Und er wirkt umso härter, je mehr Steuernachlässe zuvor konsumiert wurden. Der zehnprozentige Satz bis 50.000 Schilling Jahreseinkommen steht nur mehr auf dem Papier. Nach dem Überklettern der Absetzbeträge fallen alle sofort in den 22-Prozent-Ta- rif. Damit das nicht allzu schmerz-einfallen lassen. Steuer unter 3.700 Schilling pro Jahr wird gar nicht eingehoben, darüber wird sie bis 7.400 Schilling „eingeschliffen“.

Derartige Kunststücke könnte man sich ersparen, hätten wir in Österreich ein echtes steuerliches Existenzminimum. Wenn durch das Gesetz also ein Mindesteinkommen festgelegt wäre, ab dessen Überschreiten der Steuertarif überhaupt erst zu wirken beginnt. Naheliegend wäre, dafür etwa den Richtsatz der Mindestpensionen festzusetzen, die ja wirklich nicht besteuert werden dürften! Aber dann müßte der Staat alle gleichbehandeln und könnte sich nicht herauspicken, wen er begünstigt, ohne dabei auf die Wirkung der Progression zu verzichten, die bekanntlich durch die Inflation immer mehr verschärft wird.

Machen wir ein Gedankenexperiment: Man läßt auf alle Zeit den Tarif wie er ist, obwohl die Geldentwertung munter voranschreitet. Von Zeit zu Zeit gewährt man „großzügig“ Absetzbeträge, die wenigstens bei Arbeitnehmern und Pensionisten die Steuerschraube wieder lockern. Täte man dies lange genug, dann hätte man ein toleriertes Einkommen, das unversteuert bleibt. Es läge dort, wo es der Parlamentsmehrheit paßt. Der aber, der wagt, mehr zu verdienen oder selbständig zu arbeiten, würde sogleich in die 50prozen- tige Progression plumpsen. Mit „Einschleifregelung“, versteht sich.

DA SEI KARL MARX DAVOR...

Nennen wir das Kind beim Namen. Der Steuerstaat betreibt heute eine bewußte Vemebelungstaktik. Man will kein echtes Existenzminimum, das jedem zusteht und das jeder kennt. Die Folge wäre ja, daß Steuerpflichtige die berechtigte Frage stellen könnten, ob dieser Freibetrag überhaupt (noch) stimmt. Und es könnten manche die ganz und gar unsittliche weitere Frage stellen, ob man bei der Festlegung eines steuerfreien Einkommens nicht auf Kinder Rücksicht nehmen müßte. Da sei wirklich Karl Marx davor! Für Kinder hat man eben keinen Anspruch auf ein unversteuertes Einkommen, das deren Unterhalt deckt. Man hat vielmehr alles zu versteuern und darf dann dankbar die Gaben des Staates annehmen.

Die nächste Steuerreform kommt bestimmt. Wohltönend wird uns versichert, daß es zu „keinen Steuererhöhungen“ kommen wird. Die braucht man wirklich nicht zu beschließen, die kommen ja von selbst. Die Geldentwertung verschärft die Progression ohnedies. Fragen der Steuergerechtigkeit werden ignoriert. Irgendwann wird man sich aber darauf besinnen müssen, daß Steuerpolitik nicht dazu da ist, Geschenke nach Belieben, sondern Lasten gerecht zu verteilen, Lasten, die notwendig sind, um auch den Sozialstaat und seine Beihilfen zu finanzieren. Nehmen und Geben sind zu trennen, sauber, beides gerecht und übersichtlich. Nur so kann man der

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