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Blick durchs grüne Fenster

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Wenn in Algier die Siedler Barrikaden errichten, wenn in Genf der Staatsanwalt einen Rechtsanwalt des Mordes anklagt, dann berichtet die Presse Europas in vielspaltigen Artikeln darüber. Wenn aber in Berlin die „Grüne Woche“ eröffnet wird, wenn die Agrarminister von neun europäischen Staaten und viele Bauernführer hier zusammenkommen, dann findet man in der österreichischen Tagespresse nur kurze Meldungen darüber. Berlin ist weit, und hier an der Donau meinen noch allzu viele, daß es sich bei der „Grünen Woche“ um eine Landwirtschaftsschau von höchstens regionaler Bedeutung handelt.

Wie falsch eine solche Ansicht ist, davon konnten sich jene wenigen Österreicher, die kürzlich Besuch an der Spree machten, überzeugen. Die Ausstellungshallen am Funkturm in Berlin-Charlottenburg waren vom 28. Jänner bis 27. Februar der Treffpunkt von Stadt und Land, von Agrarpolitikern und Agrarjour-nalisten aus den wichtigsten Ländern Europas. Allein Dänemark schickte 30 Journalisten nach Berlin, die dort ihren Kollegen aus Westdeutschland, Frankreich, Holland, Belgien, Italien, Österreich und der Schweiz begegneten. Führende Persönlichkeiten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der Montanunion, des Euratom, des Europäischen Wirtschaftsrates und anderer internationaler Organisationen benutzten ihren Aufenthalt in Berlin zu eingehenden Aussprachen. 26 europäische und überseeische Staaten, unter ihnen die USA, Kanada, Marokko und Israel, zeigten Agrar-produkte und Bedarfsartikel für die Landwirtschaft und den Haushalt. 468.000 Besucher passierten die Tore der Messehallen. Die „Grüne Woche“ war auch heuer eine Veranstaltung von internationaler Bedeutung, und Berlin war wiederum eine Reise wert.

„Der Internationale Grüne Markt“ - so hieß das Thema der Ausstellung in diesem Jahr. Was alles gab es in diesem „Grünen Schaufenster Europas“, das durch Spezialitäten aus einigen Länden Amerikas, Afrikas und Asiens noch bunter und vielfältiger geworden war, zu sehen: Austern aus Frankreich, Bacon aus Dänemark, delikater Käse aus Holland, Spitzenweine aus Italien, Geflügel aus Belgien, Orangen aus Marokko, Obst und Gemüse aus dem Westen und Süden Europas.

Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forste in Bonn hatte hinter zwei hochgezogenen Schlagbäumen eine europäische Lebensrnittelschau eingerichtet. Hier wurde gezeigt, was die Hausfrauen der sechs EWG-Staaten einzukaufen pflegen. Auf sechs Verkaufsständen lagen die besonders begehrten Lebensmittel dieser Länder. Hier konnte man die Konsumgewohnheiten, aber auch den der Menge nach sehr unterschiedlichen Lebensmittelverbrauch erkennen. Eine Statistik des Pro-Kopf-Verbrauches weist nach, daß ein westdeutscher Bürger dreimal soviel Kartoffeln ißt als ein Amerikaner und Italiener, und fast die Hälfte mehr als ein Engländer oder Franzose. Die Italiener wiederum essen doppelt soviel Gemüse als die Westdeutschen, die Franzosen sogar die dreifache Menge. Auch bei anderen Lebensmitteln ergeben sich interessante Hinweise, wie sich die Bauern den spezifischen Wünschen ihrer Konsumenten anzupassen haben.

Über die Notwendigkeit, die landwirtschaftliche Erzeugung von vornherein auf die Bedürfnisse des gemeinsamen Marktes von 170 Millionen Menschen einzustellen, sprach der ehemalige niederländische Landwirtschaftsminister Mansholt, der gegenwärtig als Vizepräsident der EWG-Kommission und Leiter der EWG-Agrarabteilung zu den Männern gehört, welche die Weichen der EWG stellen und das Tempo der Integration beeinflussen. Mansholt ist „fest davon überzeugt, daß das stetige kräftige Wirtschaftswachstum, das die Integration unserer sechs Volkswirtschaften auslösen und aufrechterhalten wird, mit seiner steigenden Kaufkraft dem Verbraucher einen aufnahmefähigen und aufgeschlossenen Markt für hochwertige Nahrungsmittel schaffen wird. Die berechtigte Forderung nach Verbesserung der landwirtschaftlichen Einkommen wird sich um so schneller und vollkommener verwirklichen lassen, je günstiger die Wirtschaftsentwicklung der EWG ist. Mit steigender Kaufkraft und wachsender Bevölkerung kann allein der Verbrauch an tierischen Veredelungsprodukten so steigen, daß bis 1970 fast zehn Millionen Tonnen Getreide mehr veredelt werden müssen. Das ist eine der Gelegenheiten, die sich der Landwirtschaft in der EWG bieten. Jeder einzelne, jeder Betrieb wird sich die

Frage stellen: Wer wird diese Chance nutzen? Es werden diejenigen Betriebe sein, die das produzieren, was der Markt verlangt: mageres Fleisch, Geflügel, Eier usw. Es werden diejenigen Betriebe sein, die die beste Ware und eine standardisierte Qualität auf den Markt bringen, die rationell und billig produzieren und ihren Absatz gemeinschaftlich gut organisieren. Gerade die Landwirte, die ja gewohnt sind, mit beiden Füßen auf der Erde zu stehen, sollten aber nicht übersehen, daß hier der Alltag der EWG anfängt.“

Dieser agrarpolitische Optimismus Mansholts wurde von den in Berlin versammelten EWG-Agrarministern nicht immer geteilt. G e-wichtige Bedenken wurden geäußert, Insbesondere die Fragen, ob der Bodenproduktion oder der Veredelungswirtschaft über den Tiermagen der Vorrang einzuräumen sei, wie man zu einem einheitlichen Getreidepreis innerhalb der EWG kommen könne, wie die Normung und Verpackung von Obst und Gemüse durchzuführen sei. ob die im EWG-Vertrag vorgesehenen Fristen gekürzt werden sollten, lösten lebhafte Diskussionen aus. Auch Bundespräsident Dr. h. c. L ü b k e nahm hierzu Stellung; als langjähriger Ernährungs- und Landwirtschaftsminister, fünf Jahre in der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen und sechs Jahre in der Bundesregierung in Bonn, gehört er zu den erfahrensten Agrarpolitikern Europas. In einer Bauernversammlung im Großen Saal des Senders „Freies Berlin“ sagte Lübke, „daß die Grundgedanken für die Agrarpolitik in der EWG, die ihm hier in Berlin vorgetragen worden seien, so richtig und so konsequent durchdacht seien, daß er zu ihnen uneingeschränkt ja sagen könne. Er möchte den deutschen Bauern sagen, daß sie in die Zukunft mit ruhiger Zuversicht hineingehen könnten. Die Landwirtschaft werde nicht überfahren und überrundet. Solange die gegenwärtige gute Konjunktur in der deutschen Wirtschaft anhalte, in dem von uns beneideten industriellen Sektor, werde man auch die Möglichkeit haben, dem Landwirtschaftsgesetz entsprechend zu handeln. Bundespräsident Lübke regte an, die deutsche Landwirtschaft solle mehr Fingerspitzengefühl zeigen, um zu erreichen, daß die Stimmung des Verbrauchers der der Landwirtschaft folge.“

„Eine gute Stimmung für die Landwirtschaft zu schaffen“, das war ein keineswegs zweitrangiger Nebenzweck, der mit der „Grünen Woche“ verbundenen Veranstaltungen. Man kann den Regisseuren das Lob nicht versagen, daß ihnen auch diese Aufgabe ausgezeichnet gelungen ist.

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