Bulgariens Bürger im Aufbruch

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In den längsten demokratischen Protesten Bulgariens fordert eine neue Generation mehr Moral in der Politik. Die Protestbewegung wächst. Eine Reportage aus Sofia.

In den letzten Jahren sind die Menschen auf zwei Rädern in Sofia zu einer unübersehbaren Gruppe geworden. Von der Geisteshaltung her jung, offen und aktiv, scheinen sie zu ein und derselben Gattung zu gehören. Kein Wunder, denn hier mit dem Rad unterwegs zu sein hat auch gute Gründe: "Die im Sozialismus angelegte Infrastruktur entspricht längst nicht mehr den modernen Anforderungen. Radfahren rentiert sich ökonomisch und entspricht dem Zeitgeist“, erklärt der Computertechniker Wassil Preslawski, und seine Augen lächeln bei dem Anblick der Hunderte von Radfahrern, die sich nach Arbeitsschluss zur Demonstration mobil gemacht haben.

So ähnlich lässt sich auch die Frage beantworten, warum die bulgarische "DANS-With-Me-Bewegung“ auch schon mittels Krawallen versucht, die erst am 12. Mai gewählte, sozialistisch geführte Regierung zum Rücktritt zu bewegen: Für sie ist das Netz der Seilschaften in der Wirtschaft, Politik, Justiz und in den Geheimdiensten mit den Anforderungen einer modernen und demokratischen Gesellschaft nicht mehr vereinbar. Auch alle Oppositionsparteien verlangen erneute Parlamentswahlen.

Zum Protest radeln, rollen oder skaten

Eineinhalb Monate schon zieht es deshalb vor allem die Jüngeren jeden Abend zum Ministerratsgebäude und zum Parlament, zum Denkmal des Unabhängigkeitskämpfers Wassil Lewski und schließlich zur größten Kreuzung an der Adlerbrücke. Überall legt der Zug der Protestierenden den Straßenverkehr lahm und macht den Weg für Fahrräder, Skateboards und Roller frei. Aber auch für künstlerische Performances wie etwa "Die Mafia heiratet die traditionellen Parteien“ oder einen informellen Wettbewerb über die einfallsreichsten Transparente. Die schrille Geräuschkulisse im Zentrum von Sofia setzt sich aus Trommeln sowie Hupen und Quietschen der Fahrradbremsen zusammen. Sofia ist lebendig wie nie zuvor.

Entfacht wurde der Unmut durch die Ernennung einer sinnbildlichen Figur der Oligarchie, Deljan Peewski, zum Chef der Geheimdienste. Der umstrittene Abgeordnete von der Partei der bulgarischen Türken kontrolliert gemeinsam mit seiner Mutter die meisten Medien in Bulgarien. Unterstützt wird er dabei von dem Mehrheitsaktionär der Corporate Commercial Bank (CCB) Zwetan Wassilew. Dieser wiederum wird der Konzentration von Einlagen staatlicher Unternehmen beschuldigt. Neben dem Mediengeschäft haben das Tandem Peewski-Zwetanow durch Multis wie etwa Bugartabak, Vivacom und Technomarket Aktien in Milliardenhöhe angehäuft.

Wut über Korruption

Der Versuch der Regierung, Peewski mit der Kontrolle der Sicherheitsdienste zu beauftragen, machte sie in den Augen der meisten Wähler zur Marionettentruppe der Wirtschaftsgruppierungen. Noch am selben Tag organisierten sich via Facebook Zehntausende. Die Regierung zog Peewskis Kandidatur zurück und erklärte diese als Fehler. Stattdessen kündigte sie Maßnahmen zur Bekämpfung des "wahren“ Problems, nämlich der Armut, an: etwa eine Senkung der Strompreise und eine Erhöhung der Kinderbeihilfe. Damit meinten sie, die aufgebrachten Bürger beruhigen zu können. Doch die Proteste gingen weiter.

Anscheinend haben die Regierenden die Anti-Korruptions-Rufe während der Winterproteste, als sich Menschen vor Verzweiflung selbst verbrannten, überhört. Sie waren sich ihrer Macht sehr sicher. "Doch diese Macht basiert nur auf einer Unterstützung von 14 Prozent der Wähler. Das Einzige, was die Wahlsieger bekommen haben, ist die Chance, einen neuen Kurs im Sinne des Gemeinwohls einzuschlagen“, erklärt die politische Beobachterin Sibina Grigorowa.

Am Monopol der staatlichen Energieholding BEH, die an Russlands umstrittenen Energieriesen Gazprom gekoppelt ist, wird nicht gerührt. Doch wie kann die Regierung dann den Bulgaren zumutbare Lebenskosten sichern? "Die aktuelle Reduktion des Strompreises ist nur ein populistischer Trick, für den die Verbraucher später bezahlen müssen“, ist der Wirtschaftsstudent Dimitar Ewtimow überzeugt. So ähnlich empfinden es alle von seiner Gruppe, die heute auf den Boulevard "Russki“ marschieren.

Als die Budgetaktualisierung vor einer Woche im Parlament diskutiert wurde, haben Tausende das Gebäude blockiert. Das Vorhaben des Kabinetts nährte den Verdacht, neben den notwendigen Sozialausgaben und der Ankurbelung der Wirtschaft Gelder für sonstige Zwecke umzuleiten und das Land in Schulden zu stürzen. Schließlich schlug eine Blockade in blutige Zusammenstöße um. Elegant gekleidete Frauen wehrten sich gegen gepanzerte Ordnungshüter. Erst in den frühen Morgenstunden gelang es der Polizei, die Menschenmenge zu durchdringen und die von den Sozialisten als Geiseln bezeichneten Abgeordneten und Minister in Sicherheit zu bringen.

Alt und Neu prallen aufeinander

Mittlerweile ist es in Sofia schon halb elf. Zu dieser Zeit sind Pfiffe und Trommeln eher selten. Nur Rockmusik tönt im Hintergrund. Richtig angenehm sitzt es sich da in dem schönen akademischen Teil der Hauptstadt, wenn auch direkt auf der Straße. Die Gespräche drehen sich um die Strategie der Proteste und um Skurrilitäten, für die die Politiker auch am heutigen Tag wieder gesorgt haben. Das Bier in der Hand und der freie Himmel sorgen eher für Urlaubsstimmung. Doch eine Pause plant man bei "DANS-With-Me“ nicht. "Die Fehlbesetzung des Chefs der Geheimdienstagentur ist schon Vergangenheit, aber der bekannte Regierungsstil nicht“, beschreibt Ani, Redakteurin in einem Verlag, die angespannte politische Situation. Ein Freund von ihr, der Verleger ist und seine Kappe tief ins Gesicht gezogen hat, wirft nachdenklich ein: "Unser Vorhaben ist alles andere als einfach, weil wir festgefahrene Strukturen bekämpfen. Kann sein, dass wir Idealisten sind, aber das ist gut so.“

Auf den Straßen von Sofia prallen dieser Tage Zukunft und Vergangenheit aufeinander. Da sind Menschen, die von den politischen Sitten des Totalitarismus nicht gebrandmarkt wurden. Sie sind in der schwierigen Zeit der Übergangsjahre nach dem Zusammenbruch des Sozialismus aufgewachsen. Diese junge Generation scheint von den neuen Medien und der Meinungs- und Reisefreiheit mehr geprägt zu sein als vom unreformierten Bildungssystem und der unmoralischen politischen Kultur. Ein für dieses Land neues, demokratisches Bewusstsein bahnt sich seinen Weg.

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