Das Böse ist überall

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Die gestiegene Kriminalitätsrate sorgt hierzulande für Diskussionen. Was aber sind die Ursachen von abweichendem Verhalten? Wie ist es zu sanktionieren, um den Beginn "krimineller Karrieren" zu verhindern? Und wie funktionieren die neuen Methoden der Kriminalistik, die Verbrecher nach Jahrzehnten hinter Gitter bringen können? Im Furche-Dossier legen Kriminalsoziologen, Strafrechtsexperten, DNA-Analytiker, Täterprofiler - und ein Krimineller selbst ihre Sicht der Dinge dar. Redaktionelle Gestaltung: Doris Helmberger Kriminelles Verhalten ist keine Eigenschaft spezieller Randgruppen oder Typen, sondern durchzieht die Gesellschaft - und ist in diesem Sinn "ganz normal".

Wer auf halbwegs reflektierte Weise über Kriminalität und ihre Ursachen nachdenken möchte, sollte zunächst bedenken, dass Kriminalität sehr unterschiedliche Phänomene bezeichnet. Wir sagen Kriminalität, aber im einzelnen meinen wir Mord und Totschlag, Vandalismus, üble Nachrede, Brandstiftung, Hochverrat, Schwarzfahren, Erpressung, sexuelle Kontakte mit Minderjährigen, betrügerischen Bankrott, Geldwäsche, den Konsum von oder Handel mit bestimmten Drogen, nationalsozialistische Wiederbetätigung und so weiter - also Verhaltensweisen, die nicht allzu viel gemeinsam haben, abgesehen davon, dass der Gesetzgeber sie "kriminalisiert" und mit staatlichen Strafen bedroht - und dass sie mehr oder minder "unerwünscht" sind.

Geborene Verbrecher?

Schon diese Vielfalt legt die Vermutung nahe, dass verschiedene Sorten von Kriminalität auch ganz unterschiedliche Ursachen haben dürften. Manche kriminelle Verhaltensweisen lassen sich in unserem kulturellen Bezugsrahmen mit übertriebenem Alkoholkonsum "erklären", andere kaum. Manche scheinen plausibel vor dem Hintergrund von Armut und akuten Notlagen, oder auf Grund jugendlichen Übermuts, für andere Delikte wiederum machen diese Erklärungen anscheinend wenig Sinn. Dabei führt die Rekonstruktion von Ursachen oder Motiven nie wirklich ans Ziel, verweist auf immer weitere offene Fragen und erzeugt neue Ungewissheiten, vor denen die Kausalerklärung letztlich kapitulieren muss.

Lange Zeit hat sich die "klassische" Kriminologie bevorzugt mit der Täterpersönlichkeit befasst, hat auch mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit die biologische und anthropologische Verursachung von Kriminalität behauptet oder zumindest als plausible Denkvariante forciert. Die Klassifikation der Kriminellen in "geborene Verbrecher" und "Gewohnheitsverbrecher", der Hinweis auf die psychopathischen Aspekte ihrer Persönlichkeit und ihre "Degeneration", die Identifizierung verschiedener "krimineller Typen", die Frage, ob Mörder an bestimmten körperlichen Merkmalen zu erkennen seien, welche Form der Lippen, der Ohren, welche Art des Blicks für den "typischen" Kriminellen charakteristisch ist, hat eine beachtliche Zahl an Publikationen und Forschungsanstrengungen inspiriert, nicht selten verbunden mit der Propagierung rassistischer Ideologien.

Spätere Jahrzehnte haben sich weniger für das Erbgut und den Körperbau des Kriminellen interessiert, auch nur mehr am Rande für seine spektakulären Tätowierungen, sondern eher für die näheren Umstände seines Aufwachsens, für seine frühkindlichen Erfahrungen, für Familienstrukturen und Sozialisationsbedingungen. Befunde dieses Typs haben mehr oder minder plausible Erklärungen erbracht, von denen sich manche in der Sphäre des Trivialen bewegen: Wer unter relativ unerfreulichen, benachteiligenden Bedingungen aufwächst, von den Segnungen der Marktwirtschaft und der Zivilisation nicht viel mitbekommt, dafür umso mehr von den Schattenseiten und Risken, der startet mit einem gehörigen Handicap, der entwickelt auch leicht ein Selbstbild als Außenseiter oder Versager, der neigt mehr als andere zu abweichendem oder definitiv kriminellem Verhalten, der läuft auch ein überdurchschnittliches Risiko, durch gesellschaftliche Reaktionen in seinem Status als Abweicher oder Außenseiter bestätigt und fixiert zu werden.

Normales Phänomen

Von soziologischer Seite ist gegen die älteren Kriminalitätstheorien vor allem folgendes eingewandt worden:

* Kriminalität ist - anders als das dem Alltagsverständnis geläufig ist - ein "normales Phänomen" insofern, als es in allen Kulturen und Gesellschaften, die diesen Begriff und die damit verbundene Vorstellung überhaupt kennen, vorkommt, doch ist der Inhalt und Umfang dessen, was eine Gesellschaft unter "Kriminalität" versteht, äußerst variabel. So gut wie alle Verhaltensweisen, die uns als kriminell gelten, sind unter bestimmten kulturellen Rahmenbedingungen zulässig oder jedenfalls nicht "kriminell".

* Kriminalität ist nicht eine Eigenschaft eines speziellen "Typus", der sich wesensmäßig vom übrigen angepassten Rest der Menschheit unterscheidet. Sehr eindrucksvoll haben zahlreiche "Dunkelfeldforschungen" demonstriert, dass abweichendes Verhalten nicht die Angelegenheit einer kleinen, klar abgrenzbaren Minderheit ist, sondern dass sich kriminelle Episoden in den Biografien fast aller Gesellschaftsmitglieder finden. Kriminalität meint nicht nur die unerwünschten Handlungsstrategien der Randgruppen, sie umfasst auch die "Kriminalität der Mächtigen", etwa die vielfältigen Delikte des Wirtschaftslebens. Die meisten kriminellen Akte ziehen keine gesellschaftlichen Reaktionen nach sich oder allenfalls solche, die die Biographie nicht besonders nachhaltig beeinflussen. Strafjustizielle Reaktionen erfolgen also äußerst selektiv, das heißt die Vorbestraften und erst recht die in den Gefängnissen angehaltenen Personen sind nicht unbedingt repräsentativ für den relativ breiten Personenkreis, der die strafrechtlichen Normen verletzt.

* Kriminelle Karrieren lassen sich im Rückblick manchmal als unglückliche Interaktion zwischen dem späteren Kriminellen und den gesellschaftlichen Instanzen begreifen: Es beginnt damit, dass etwa ein Jugendlicher ein Problem hat, wenig Kompetenz zur Lösung diese Problems und wenig Unterstützung durch sein soziales Umfeld erfährt. Er verfällt deshalb auf einen abweichenden Versuch der Problemlösung (Diebstahl, Körperverletzung...) und ist in der Folge mit Reaktionen von Institutionen (Jugendamt, Polizei, Gerichte) konfrontiert, die ihrerseits wenig Bereitschaft mitbringen, sich auf das "eigentliche" Problem einzulassen und im wesentlichen strafend intervenieren. Dort aber, wo die Intervention aufs Bestrafen, aufs Beschneiden legaler Handlungsmöglichkeiten hinausläuft, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch künftige Probleme durch abweichendes Verhalten gelöst werden.

Kontraproduktive Strafe

Es leuchtet ein, dass eine Geldstrafe gegen den Dieb, der sich ohnedies in misslichen finanziellen Verhältnissen befindet, ihm wenig dabei hilft, sich künftig in den Bahnen der Legalität zu bewegen. Es braucht auch nicht viel Phantasie, sich vorzustellen, dass die Freiheitsstrafe für den in Zahlungsschwierigkeiten befindlichen Geschäftsmann mit Alkoholproblemen, der sich mit Betrügereien über Wasser halten wollte, eine Vermehrung seiner Schwierigkeiten bedeutet. Zudem bringt sie ihn mit der Subkultur des Gefängnisses in Kontakt, was seine Zukunftschancen nicht gerade verbessert.

Über die Jahrhunderte hinweg lässt sich resümieren, dass die Kriminalwissenschaften ihre Faszination vom Täter und seiner pathologischen Persönlichkeit im wesentlichen überwunden haben. Wenn das Böse immer und überall ist, zumeist aber in nicht allzu dämonischer Gestalt erscheint, dann macht es wenig Sinn, es an besonderen Individuen exemplarisch festmachen zu wollen.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am außeruniversitären Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie in Wien.

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