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Das gestörte Gleichgewicht

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Der bäuerliche Bevölkerungsanteil in Oesterreich ist seit 1910 um rund 600.000, seit 1934 um fast 300.000 Menschen zurückgegangen. Prozentuell gehörten 1934 27%, 1951 nur mehr 22% der Einwohner der Land- und Forstwirtschaft an. Seither haben also im Jahresdurchschnitt 17.523 oder pro Tag 48 Menschen die bäuerliche Scholle verlassen. Die übrigen Wirtschaftszweige aber haben in dieser Zeitspanne einen Zustrom von rund 300.000 Menschen oder etwa 100.000 Familien erhalten, die nur in Konjunkturzeiten ausreichend beschäftigt werden können, gegenwärtig aber den Arbeitsmarkt belasten.

Alle diese Menschen haben in erster Linie ein höheres Einkommen gesucht, das ihnen die Landwirtschaft nicht bieten konnte. Denn die amtliche Statistik ergibt mit genügender Klarheit, daß das österreichische Volkseinkommen im Jahre 1951 rund 50,2 Milliarden Schilling betragen hat, wovon auf die Land-und Forstwirtschaft einschließlich der Arbeitnehmer nur 7,9 Milliarden Schilling, also nicht mehr als 15,7%, entfallen sind. Das bedeutet also, daß 22% der Gesamtbevölkerung oder — was noch deutlicher ist — 32% aller Berufstätigen nur 15,7% des Nationaleinkommens beziehen. Das aber ist die eigentliche Veranlassung der Landflucht mit allen ihren verhängnisvollen Auswirkungen.

Dieser ständige Einkommensentzug der Land- und Forstwirtschaft ist nichts anderes als die natürliche Folge der wirtschaftlichen Unterbewertung der Landarbeit und ihrer Erzeugnisse, die in xler bedrohlichen Preisschere, der Differenz zwischen den Kosten der erzeugten Produkte und der der Betriebs- und Bedarfsmittel, ihren beredten Ausdruck findet. Denn diese Preisschere, ausgedrückt durch den Indexvergleich, ergibt einen jährlichen Einnahmenabgang von über 1,3 Milliarden Schilling, wenn lediglich das Jahr 1937 zum Vergleich herangezogen wird.

Die Folgen dieser Entwicklung bleiben natürlich nicht aus: Die Kapitalverarmung und das Kreditbedürfnis der Landwirtschaft haben bedrohliche Ausmaße angenommen, die die so notwendige Anpassung der Betriebsführung und Betriebseinrichtung auf die neuzeitliche Produktionstechnik hemmen und erschweren.

So weisen die Berichte der Oesterreichischen Nationalbank mit nüchterner Klarheit aus, daß mit 30. September 1952 vom Ge-samteinlagenstand in die österreichischen Kreditinstitute von 12,3 Milliarden Schilling nur rund 800 Millionen Schilling oder nicht mehr als 6,5% auf landwirtschaftliche Spareinlagen entfallen. Gleichzeitig betrug die Summe der aushaftenden Kredite in Oesterreich rund 17 Milliarden Schilling. Davon entfallen auf die landwirtschaftlichen Kreditgenossenschaften 950 Millionen Schilling oder 5,5%. Die Land- und Forstwirtschaft mit 32% der Berufstätigen und 22% der Gesamtbevölkerung ist also an den Spareinlagen nur mit 6,5% und an .den Krediten mit 5,5% beteiligt. Deutlicher kann die Kapitalverarmung des Bauernstandes kaum zum Ausdruck gebracht werden.

Von einem wirtschaftlichen Gleichgewicht zwischen Stadt und Land kann also keineswegs mehr die Rede sein. Nun ist aber ein wohlabgewogenes Gleichgewicht der tragenden Wirtschaftskräfte die unerläßliche Voraussetzung für eine gesunde Volkswirtschaft Gegen diese Feststellung wird sich ebensowenig ein beweiskräftiger Einwand erheben können wie gegen die Diagnose, daß angesichts der bedrohlichen Arbeitslosenzahl irgend etwas krank ist im Staat Oesterreich.

Nur die Ansichten darüber, wo der Krankheitsherd liegt, gehen vielfach auseinander. Während die einen darauf schwören, daß nur der Mangel an Investitionskapital für die Fortführung der Bautätigkeit usw. — der angeblich durch die neue Finanzpolitik der Stabilisierung verschärft wird — an der Arbeitslosenzahl Schuld trage, sind die anderen davon überzeugt, daß die Vollbeschäftigung nur durch die Sicherung der Währung und eine darauf aufgebaute Kapitalbildung und Produktionssteigerung in zäher Arbeit erreicht werden könne.

Sicherlich wirken, wie immer so auch hier, eine ganze Reihe von einander ergänzenden und zum Großteil den Kriegsfolgen entspringenden Faktoren zur gegenwärtigen Entwicklung unserer Wirtschaft mit, so daß es schwer fällt, eine einzige Ursache dafür verantwortlich zu machen.

. Trotzdem aber wird in den Wirtschaftsprogrammen eine der wesentlichsten Ursachen der Kreislaufstörung, nämlich das aus den Fugen geratene Gleichgewicht zwischen der Landwirtschaft und den übrigen Wirtschaftszweigen, oder kurz gesagt, zwischen Stadt und Land, nicht in ihrer vollen Bedeutung erkannt, übersehen oder vernachlässigt, obgleich die verhängnisvollen Auswirkungen klar auf der Hand liegen.

Es ist ebenso unmöglich, die Vollbeschäftigung auf die Dauer durch übernormale Investitionen zu erzwingen, die nicht aus Eigenkapital finanziert werden können, wie eine Stabilisierung der Wirtschaft und der Währung auf dem schwankenden Fundament eines offensichtlich gestörten Gleichgewichts aufzubauen. Solange das Fundament eines Baues nicht steht, kann darauf kein Dach errichtet werden.

Das gilt um so mehr, wenn es sich um einen so wichtigen Baustein unserer Volkswirtschaft wie der Land- und Forstwirtschaft handelt, die dem Werte ihrer Produktion nach zur ersten Industrie des Staates zählt. Es sei nur kurz daran erinnert, daß der Nettoproduktionswert der österreichischen Industrie mit rund 4,2 Milliarden Schilling nicht mehr als 38% der land- und forstwirtschaftlichen Marktproduktion erreicht oder daß allein der Erzeugungswert der Forstwirtschaft den Gesamtwert der Hüttenproduktion der österreichischen Eisen- und Stahlwerke übertrifft.

Es ist offensichtlich, daß eine dauernde Schwächung der Land- und Forstwirtschaft von. ernsten Auswirkungen auf die übrige Wirtschaft begleitet sein muß. Das Institut für Wirtschaftsforschung hat kürzlich festgestellt, daß der Inlandabsatz an Fertigwaren mit der Produktion nicht Schritt halte, und daher Arbeitseinschränkungen und Produktionsstillegungen erfolgen. Der wichtigste Auftraggeber an die industriell-gewerbliche Wirtschaft ist aber die Landwirtschaft, die allein im vergangenen Jahr schätzungsweise 2 Milliarden Schilling für Maschinen und Geräte, Gebäudeerhaltung und industrielle Betriebsmittel ausgegeben hat. Es ist also sicherlich nicht zuviel behauptet, daß der Land- und Forstwirtschaft eine wirtschaftliche Schlüsselstellung zukommt, die nicht übersehen werden darf.

Die Schlußfolgerung liegt also klar auf der Hand. Das wirtschaftliche Gleichgewicht zwischen Stadt und Land ist zum Nachteil der Landwirtschaft empfindlich gestört. Die Folge davon ist ein Abströmen der bäuerlichen Bevölkerung in andere Berufe, die dadurch überlastet werden. Der andauernde Verlust an Menschen und Kapital schwächt den wichtigsten Zweig unserer Volkswirtschaft, die dadurch' eine empfindliche Einbuße an Aufträgen erleidet. Am Ende dieser Entwicklungsreihe aber steht das Arbeitslosenheer, das ein weiteres Absinken des Konsums zur Folge hat und damit wieder durch die verminderte Nachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten das bäuerliche Einkommen senkt.

Das also ist die Kreislaufstörung, die von der Gleichgewichtsverlagerung zwischen Stadt und Land ihren Ausgangspunkt nimmt und in der Arbeitslosigkeit Hunderttausender endet. Damit aber ist der Nachweis erbracht, daß eine Gesundung unserer Volkswirtschaft die Wiederherstellung dieses Gleichgewichts mit zwingender Notwendigkeit voraussetzt; ferner, daß es nicht nur im Interesse der Landbevölkerung, sondern ebenso der Stadt liegt, hier einen gerechten Ausgleich zu suchen und zu finden.

Die tiefe und durch Jahrhunderte erprobte Spruchweisheit: Hat der Bauer Geld, so hat's die ganze Welt, ist auch in der modernen Volkswirtschaft nicht zu widerlegen. Die Tatsache, daß ein so reicher Staat wie Amerika nach diesem Grundsatz seine mächtige Wirtschaft aufgebaut hat, sollte in Oesterreich zu denken geben.

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