"Das Netz - die Droge gegen innere Leere“

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In der vermeintlichen Anonymität des Internets werden Tabus schnell gebrochen, wird das virtuelle Gegenüber leicht zur Projektionsfläche. Warum können wir uns dem Sog des World Wide Web so schwer entziehen? Was geht in uns vor, wenn wir Mitteilungen posten, chatten oder surfen?

Die Furche: Viele Leute posten in sozialen Foren unbedacht sehr Privates. Wieso hat das Preisgeben von Privatem so einen Reiz?

Rotraud Perner: User wollen usen - sie suchen eine Reaktion und orientieren sich an dem, wovon sie wähnen, dass es andere anziehen könnte. Grundsätzlich ist Vorsorge für viele ein Fremdwort - auf die Idee von Negativfolgen kommen sie nicht, weil sie nie gelernt haben, Impulse zu verlangsamen und auf die Zukunft hin zu verschieben. Das ist eine Folge der beschleunigten "Kinozeit“, die Realzeit-Erfordernisse vergessen lässt.

Die Furche: Viele User lesen diese Postings, klicken Bilder und Videos von banalen Alltäglichkeiten an. Eine Art des Voyeurismus?

Perner: Ich sehe das eher als Zeichen von Einsamkeit und Stumpfsinn. Ein echter Voyeur will ja Geheimes, Verbotenes "erjagen“ - aber die angesprochenen Trivialitäten ersetzen den fehlenden Alltagskontakt oder helfen ihn zu vermeiden. Es gibt Paare, die nebeneinander sitzend über SMS kommunizieren - direkter Austausch ist ihnen zu "direkt“. Ich sehe darin auch eine Folge der Reizüberflutung und das Bedürfnis nach Distanz bei gleichzeitigem wunsch nach Kontakt.

Die Furche: Welche Rolle spielt das Protzen in Netzwerken wie Facebook?

Perner: Bei den Profilen in sozialen Netzwerken handelt es sich um eine Art "Schaufenster-Auslage“: Man bastelt an der eigenen Identität, die sich meist aufs "haben“ und nicht aufs "sein“ bezieht. Das Posten ist die zeitökonomischste Möglichkeit, eine Botschaft an viele gleichzeitig zu senden. Es entspricht dem heutigen Zeitmangel oder auch Zeitüberfluss, wenn man daheim sitzt und nichts mit sich anzufangen weiß. Leider merken viele nicht oder zu spät, dass sie ihren Ruf ruinieren, wenn ihr Heischen nach Aufmerksamkeit oder Anerkennung die Grenzen zur Peinlichkeit überschreitet. Viele interpretieren es als Machtgewinn, online präsent zu sein. Dabei werden sie schnell zum Spielball einer fremdgesteuerten Dynamik. Die Furche: Warum ist der Suchtfaktor im Netz derartig hoch?

Perner: Das Internet bietet suchtanfälligen Menschen die Möglichkeit, sich weitgehend unkontrolliert einen leicht perpetuierbaren "Kick“ zu verschaffen. Wem die zwischenmenschliche Kommunikation fehlt, der sucht das im Netz. Diese Jagd im Netz kommt von der Gier nach Neuem, Erregendem. Ich nenne es das “Kühlschrank-Syndrom”: So wie man nachts zum Kühlschrank schleicht, ohne Appetit, aber in der Hoffnung,dort irgendwas Befriedigendes zu finden, sucht man im Netz nach dem Fehlenden. Doch das Loch in der Seele wird so nicht gefüllt. Das Netz wird zur Droge gegen innere Leere.

Die Furche: Vor allem Mädchen und Frauen werden im Internet zu Opfern, wenn Männer Intimfotos und Sexvideos veröffentlichen. Perner: Mit diesem Verhalten imitieren Burschen und Männer, was sie auf pornografischen Seiten sehen. Im Tabubruch liegt der Reiz: "Schaut her, was ich mich trau!“ In Cliquen entsteht schnell so ein Imponiergehabe. Auf die Idee, dass sie auch im Netz identifiziert werden und solche Taten strafrechtlich relevant sind, kommen sie nicht. Sie suchen Möglichkeiten, sich über Frauen zu erheben. Wenn sie das nicht durch Leistung schaffen, geht es leichter, Frauen zum Sexobjekt zu degradieren.

Die Furche: Beim Austausch von Intimfotos machen Mädchen und junge Frauen teils freiwillig mit. Wieso?

Perner: Leider akzeptieren viele Mädchen diese Objektisierung: Sie sehen, dass Popstars mit dem Klischee des Sexobjekts spielen, und nehmen das unreflektiert an. Sobald Nacktfotos oder Videos aber im Netz sind, ist die dargestellte Person quasi auf ewig abgestempelt. Kommerzielle Porno-Seiten versuchen immer wieder, neue Grenzen zu überschreiten, sobald ein Tabu ausgereizt ist. Das übernehmen Jugendliche und schieben ihre eigenen Grenzen auch immer weiter hinaus.

Die Furche: Was geht in Menschen vor, die sich Videos mit gewalttätigen Inhalten anschauen?

Perner: Das Mitgefühl geht vielfach verloren. Die jüngere Gehirnforschung zeigt: Wenn man Gewaltvideos anschaut und sich unbewusst mit den Akteuren identifiziert - meist mit den Tätern - ist dieselbe Gehirnregion aktiv, als würde man selbst agieren. Man stumpft gegen Affekte ab, braucht immer "höhere Dosen“. Die Möglichkeit einer Schein-Identität im Internet ermöglicht kriminelle Aktivitäten im großen Stil.

Die Furche: Inwiefern beeinflusst die Anonymität im Netz die virtuelle Kommunikation?

Perner: Es gibt einsame Menschen, die sich in ihr virtuelles Gegenüber verlieben und nicht warhrhaben wollen, dass das kein passender Partner ist. Was sich online abspielt, wird oft mit der Realität verwechselt. Das Internet bietet eine optimale Projektionsfläche. Doch die anonyme Kommunikation kann man jederzeit einseitig abbrechen.

Die Furche: Wie verändert die virtuelle Kommunikation unsere echte Kommunikation?

Perner: Sie wird oberflächlicher und schnoddriger. Der virtuellen Kommunikation fehlen wesentliche Faktoren der Wahrnehmung, etwa genaues Zuhören, Entschlüsseln des Tonfalls, der Mimik. Wer viel virtuell kommuniziert, wird weniger wahrnehmungsfähig. Besonders problematisch ist es, wenn Kinder die reale Kommunikation nicht mehr ausreichend erlernen.

Die Furche: Wie wirkt sich das Surfen auf unsere Wahrnehmung aus?

Perner: Der Mensch wird entmündigt, was das selbstständige Denken und die handwerklichen Fähigkeiten betrifft. Die virtuelle Welt ist ein Leben aus zweiter Hand. So entsteht ein Bystander-Effekt, man steht bloß dabei und schaut zu. Das Surfen beschleunigt uns noch mehr. Diese Zerstreuungssucht macht alles uninteressant, was mehr Zeit und Konzentration erfordert.

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