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Digital In Arbeit

Das Problem liegt im System

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Gefordert ist nicht weniger als die Entwicklung einer neuen ökonomischen Gesamtstrategie, die - im Unterschied zur herrschenden Praxis - kooperativ gestaltet sein muß.

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Gefordert ist nicht weniger als die Entwicklung einer neuen ökonomischen Gesamtstrategie, die - im Unterschied zur herrschenden Praxis - kooperativ gestaltet sein muß.

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Jede wirksame Therapie setzt eine empirische fundierte Problemdiagnose voraus. Bis Anfang der siebziger Jahre wuchs die Wirtschaft in den Industrieländern so stark, daß Vollbeschäftigung herrschte. Dafür waren mehrere, einander ergänzende Rahmenbedingungen maßgeblich: stabile Wechselkurse, insbesondere des Dollars als „Ankerwährung” der Weltwirtschaft, dementsprechend auch stabile Preise der in Dollar notierenden Rohstoffe, insbesondere von Erdöl, niedrige und damit unter der Wachstumsrate liegende Zinssätze, kooperative Wachstumsstrategien in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen unter der „leadership” der USA (zum Beispiel Marshall-Plan), enge Kooperation in den einzelnen Ländern zwischen Unternehmern und Gewerkschaften, ein wirtschaftswissenschaftliches Paradigma (Key-nesianismus), welches erklärte, wie eine aktive Wirtschaftspolitik Arbeitslosigkeit vermeiden könne, Regierungen, welche dementsprechend politische Verantwortung für die Beschäftigungslage übernahmen, die Konkurrenz des „westlichen” und „östlichen” Gesellschaftsmodells, welche die Umwandlung des „häßlichen Kapitalismus” der dreißiger Jahre zur „sozialen Marktwirtschaft” der Nachkriegszeit förderte.

Polit-ökonomisch betrachtet: Realkapital (Unternehmer) und Arbeit (Gewerkschaften) „verbündeten” sich unter der Schirmherrschaft des Wohlfahrtsstaates gegen die Interessen des Finanzkapitals (dieses wurde gewissermaßen „ruhig gestellt”), wissenschaftlich legitimiert wurde diese Koalition durch den Keynesianismus.

Die zweite Hälfte der Nachkriegszeit ist durch solche Änderungen in den ökonomischen und politischen Systembedingungen charakterisiert, deren Zusammenwirken die Arbeitslosigkeit immer mehr steigen ließ: Paradigmenwechsel vom Keynesianismus zum Neo-Liberalismus (Moneta-rismus), welcher die Lohnhöhe sowie die Unterstützungszahlungen für Arbeitslose zu den Hauptgründen für Arbeitslosigkeit erklärt und daher die Gewerkschaften und den Wohlfahrtsstaat zu den Hauptschuldigen an diesem Problem, schrittweiser Rückzug der Wirtschaftspolitik aus der Verantwortlichkeit für Vollbeschäftigung, Aufgabe des Ziels stabiler Wechselkurse und Zins-Sätze, Destabili-sierung des Dollarkurses und damit auch der in Dollar notierenden Rohstoffpreise, Anstieg der Zinssätze als Folge einer monetaristischen Notenbankpolitik (seit Ende der siebziger Jahre liegen sie permanens über der Wachstumsrate), Verlagerung der Unternehmeraktivitäten von Real- zu Finanzinvestitionen und spekulativen Transaktionen auf den (derivativen) Finanz; markten, Anstieg der Staatsschuldenquote als Folge des gesunkenen Wirtschaftswachstums, steigender Arbeitslosigkeit und hoher Zinsen, Rückgang der öffentlichen Investitionen zur Verbesserung der Infrastruktur, Niedergang des „realen Sozialismus” und damit auch seiner „zähmenden” Wirkung gegenüber dem „Kapitalismus”, Beschleunigung des technischen Fortschritts, insbesondere durch die Verbreitung der Mikroelektronik, und damit anhaltend hohe Produktivitätszuwächse - da gleichzeitig das Wachstum der Nachfrage sank, nahm die Zahl der Arbeitsplätze viel langsamer zu als jene der Arbeitswilligen, die Arbeitslosigkeit stieg.

Polit-ökonomisch betrachtet: In der zweiten Hälfte der Nachkriegszeit „verbündeten” sich Realkapital (Unternehmer) und Finanzkapital (Rentiers) gegen die Interessen der Arbeitnehmer, wissenschaftlich legitimiert wurde der Kampf gegen Gewerkschaften und Wohlfahrtsstaat durch den Mone-tarismus; im Zuge dieses Prozesses verlagerte sich die wirtschaftspolitische Macht von den Regierungen zu den Notenbanken.

Das Problem der Massenarbeitslosigkeit hat somit „systemischen” Charakter, es wird deshalb nur durch eine grundlegende Änderung der ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen bewältigt werden können. Eine Voraussetzung für den Beginn eines neuen Wachstumszyklus' (der letzte setzte vor etwa 50 Jahren ein) ist die Entwicklung einer neuen, auf realitätsnahen Annahmen aufgebauten Wirtschaftstheorie und einer darauf basierenden wirtschaftspolitischen Gesamtstrategie. Vorher müssen allerdings noch die beiden wichtigsten neo-liberalen Experimente „durchgezogen” werden:

■ Senkung von Budgetdefizit und Staatsverschuldung durch Kürzung der Sozialausgaben.

■ Verringerung der Arbeitslosigkeit durch Lohnkürzungen und eine Senkung der Sozialstandards.

Bis beide Experimente so gründlich gescheitert sind, daß die neo-liberalen Theoretiker in eine „Sinnkrise” und die Praktiker in eine politische Krise stürzen, werden noch einige Jahre vergehen (auch wenn dieser Prozeß schon im Gange ist, nur eben viel langsamer als nach 1929).

Während in den letzten 25 Jahren die Beziehungen sowohl zwischen den einzelnen Ländern als auch zwischen den wichtigsten Interessengruppen innerhalb der einzelnen Volkswirtschaften durch ein „Übergewicht” nicht-kooperativer Verhaltensweisen gekennzeichnet waren, werden die neuen Strategien der Wirtschaftspolitik in relativ höherem Maß kooperativ gestaltet sein.

Diese Strategien werden die Rahmenbedingungen auf drei Hauptebenen erneuern müssen, auf der Ebene der Weltwirtschaft, auf der Ebene der Europäischen Union sowie auf der Ebene der einzelnen Länder.

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