Der ewige Internet-Rebell

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Das erste, was einem bei der Begegnung mit Jaron Lanier auffällt, ist seine Sanftmut. Seine weiche Stimme scheint so gar nicht zu seinem schweren Körper zu passen. Wenn man seinen Ausführungen zur virtuellen Realität lauscht, klingt das so, als würde ein Weltraumabenteurer ferner Galaxien den staunenden Erdbewohnern den Informationskosmos erklären. Lanier ist nicht nur ein genialer Erklärer, sondern auch ein famoser Erzähler. Ein Reisender zwischen den Welten, zwischen der virtuellen und realen Welt. Der Internetpionier gilt als Vater der virtuellen Realität (auch wenn er das nicht so gerne hört), jener Technologie, die immersive Erfahrungen ermöglicht und mit denen heute IT-Konzerne Geld verdienen.

Boston, vor ein paar Monaten: In einem futuristischen Konferenzzentrum findet gerade eine Technikmesse statt. Es gibt wohl keinen besseren Raum, die Zukunft zu verhandeln. Lanier schlurft mit langem schwarzen Hippie-Gewand und Sandalen die Gänge zwischen den einzelnen Sessions entlang. Müde, schwer atmend. Man erkennt ihn schon von Weitem. Er passt so gar nicht in die Welt der smarten Anzugsträger. Doch sie sind alle seinetwegen gekommen. Denn ohne Laniers Pionierarbeit würde wohl manche Software-Schmiede nicht an VR-Technologien forschen.

Der Redner wartet draußen auf dem Gang, immer noch schnaufend, vor ihm ein Büchertisch mit Exemplaren seines Bestsellers "Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst". Ein schmales, in Rage geschriebenes Buch, dem man die Atemlosigkeit der Zeit anmerkt. Lanier wird später Bücher signieren, dem Reporter zuraunend: "Ihr Deutschen seid immer so aggressiv!" Immer wieder reibt er sich die Augen, als wüsste er nicht, ob er gerade in einem Traum oder in der wirklichen Welt ist.

Talk und TED

Talkshows, Ted-Talks, Konferenzen -Lanier hat ein straffes Programm. Auf die Frage des Reporters, wie es denn sein könne, dass die Bordelektronik im Flugzeug proaktiv seinen CNN-Auftritt bei Christiane Amanpour ausspielt, antwortet er nur: "Das ist ja ein Zufall." Verschwörungstheorien sind seine Sache nicht. Dazu ist er zu sehr Forscher. Dann schleppt er sich ans Rednerpult und präsentiert sich ganz unprätentiös: "Hallo, mein Name ist Jaron Lanier. Ich bin Musiker, Programmierer und Internetkritiker."(in dieser Reihenfolge).

Lanier gilt als leidenschaftlicher Sammler von Musikinstrumenten, in seinem Haus in El Paso, wo er mit seiner Frau, einer Kinderpsychologin, und seiner Tochter wohnt, soll er mehrere Tausend Instrumente besitzen. Als er 2014 in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennahm, spielte er auf einer laotischen Khaen-Flöte aus Bambusrohren. "Es waren orgelhaft einlullende, teils aber auch verstörend dissonante Klänge", berichtete die FAZ damals. Deren verstorbener Herausgeber Frank Schirrmacher war es, der Lanier neben Autoren wie David Gelernter, Evgeny Morozov und Shoshana Zuboff ins Feuilleton seiner Zeitung holte, und damit zum Zentrum der Digital-Debatte wurde. Schirrmachers Tod empfindet Lanier bis heute als schmerzlichen Verlust.

Der Öffentlichkeit ist Lanier als Autor technologiekritischer Bücher bekannt. Allein im vergangenen Jahr sind zwei neue Werke von ihm auf Deutsch erschienen: die erwähnte Streitschrift gegen Social Media sowie "Anbruch einer neuen Zeit" (beide erschienen bei Hoffmann und Campe). Darin schreibt er über die Anfänge des Silicon Valley, als man in den Hippie-Communitys noch über fliegende Untertassen, spirituelle Stammesgesänge und LSD fabulierte. Man las den Whole Earth Catalog, jenes Gegenkultur-Magazin, das Apple-Gründer Steve Jobs als die "Bibel" seiner Generation bezeichnet hatte, kultivierte Obstgärten und experimentierte mit bewusstseinserweiternden Drogen und Programmiertechniken. Mit der alten Hippie-Kultur hat heute allenfalls noch die Rhetorik des Silicon Valley zu tun.

Wer Lanier verstehen will, muss seine Vita kennen. Viel von seiner Kritik, etwa die an Scorisierungssystemen, wo Menschen wie Häftlinge zur Nummer werden, ist biografisch begründet. Seine Mutter stammte aus eine jüdischen Familie in Wien, die nach dem "Anschluss" in einem Konzentrationslager interniert war. Die Familie seines Vaters war bei Pogromen in der Ukraine fast vollständig ausgelöscht worden. Die Eltern lernten sich im New Yorker Künstlermilieu kennen. Nach Jarons Geburt siedelte die Familie nach New Mexico über. Der junge Jaron war gerade neun Jahre alt, als seine Mutter Lilian bei einem Verkehrsunfall starb. Für Jaron war das ein Schock. Er und sein Vater waren auf sich alleine gestellt, weil die Mutter als Alleinversorgerin das Geld verdiente -sie hatte am Telefon Aktien an der Wall Street gehandelt. Mit seinem Vater, einem Science-Fiction-Autor, der einige Zeit mit Aldous Huxley in Kalifornien verbrachte, stampfte er aus dem Wüstensand einen futuristischen Kuppelbau ("The Dome") aus dem Boden. Eine Raumstation, wie auf einem anderen Planeten errichtet. Ein Bubentraum. "Die Kuppel war so groß, dass man ein Gefühl von Unendlichkeit bekam, wenn man an die silberfarbene Decke schaute", schreibt Lanier in seinem Buch "Anbruch einer neuen Zeit".

Aus der Wüste in die Boheme

Das neue Habitat war für den jungen Lanier eine Bewältigungsstrategie, den tragischen Tod seiner Mutter zu verarbeiten. Der Schicksalsschlag war für ihn die Antriebsfeder, mit technischen Mitteln eine Ersatzwirklichkeit zu schaffen. Lanier war ein Geek, ein Autodidakt, der sich selbst das Programmieren beibrachte. Mit 14 Jahren schrieb er sich für das Studienfach Informatik an der New Mexico State University ein. Um die Studiengebühren zu finanzieren, hielt er eine Ziegenherde und verkaufte Ziegenmilch an lokale Lebensmittelkooperativen. Mit 17 zog er nach New York, wo er das Bard College besuchte. Der junge Hippie aus der Wüste stand da plötzlich neben Töchtern aus der New Yorker Boheme. Ein Kulturschock. Doch Lanier wusste sich zu integrieren. Er mischte sich unter die experimentelle Musikszene, gab Nachhilfestunden als Klavierlehrer. New York, schreibt Lanier rückblickend, habe das eigene Ich "wie ein gigantischer Parabolspiegel" verstärkt.

1983 gründete Lanier mit Tom Zimmerman, einem Programmierer aus Palo Alto, das Unternehmen VPL. Lanier entwickelte eine klobige Datenbrille -das Headset trug den Namen "EyePhone" - und einen Datenhandschuh, der die Schnittstelle zwischen realer und virtueller Realität bildete. Es gibt noch heute ein Video, das den jungen Lanier mit Dreadlocks zeigt, wie er die Apparatur der Öffentlichkeit präsentiert: "Wenn man sie aufzieht, sieht man eine imaginäre Welt." Mit seiner Erfindung schrieb Lanier Technikgeschichte.

Gegen die Manipulatoren im Netz

VPL verkaufte ein paar High-Tech-Handschuhe an IBM und die NASA, doch das Geschäft lief nicht gut. Lanier wurde entlassen. Von 1992 bis 2002 wirkte er als Chefwissenschaftler beim Unternehmen Eyematic Interfaces, das auf Gesichtserkennungsalgorithmen spezialisiert war. Als Google 2006 die Patente erwarb, ließ sich Lanier ausbezahlen. Danach heuerte er als Wissenschaftler bei Microsoft Research an. Heute ist der VR-Pionier ein "Web-Rebell"(The Guardian), der sein Geld mit Vorträgen und Büchern verdient. Nach allem, was man so hört, sind seine Honorare recht üppig. Er steht bei einer Agentur unter Vertrag, von der auch Jonathan Franzen und Zadie Smith vertreten werden. Wobei das, was Lanier sagt und schreibt, keine Hofkritik ist, sondern eine Generalabrechnung mit dem Behaviorismus.

Seine Hauptkritik an Tech-Konzernen (er nennt sie alarmistisch "Sirenenserver") ist, dass sie einen auf Profitmaximierung getrimmten Verhaltenssteuerungsapparat geschaffen haben, der Nutzer unter Ausnutzung psychologischer Schwächen manipuliert. Ein paar macht- und geldgierige Entrepreneure hätten das Internet kaputtgemacht. Wenn Lanier über das Silicon Valley und seine Akteure spricht, dann ist das auch immer eine Geschichte des verlorenen Paradieses. Laniers Technologiekritik hat vor allem deshalb Autorität, weil er die Technologie und ihr Missbrauchspotenzial wie kein Zweiter kennt. Er wusste schon immer: Wenn man Menschen im Labor manipulieren kann, kann man auch die Gesellschaft manipulieren.

KLARTEXT

Von Manfred Prisching

Verlorene soft power der USA

Der Mueller-Bericht liegt vor, Trump wird vernünftigerweise (in den letzten eineinhalb Jahren?) nicht angeklagt, der restliche Dreck am Stecken wird erst langsam (oder auch nie) offenbar werden. Im Grunde ist die eine oder andere kleine Gesetzesübertretung nicht wirklich wichtig, verglichen mit dem ungeheuren Schaden, den diese "historische" Figur für die Vereinigten Staaten angerichtet hat. Amerikas Macht beruhte auf hard power (Wirtschaft und Militär), mit abnehmender Kraft. Aber die entscheidende Wirkkraft für das amerikanische Prestige war die soft power: die Überzeugungskraft des wirtschaftlichen und politischen Modells, die Idee einer demokratischen, liberalen und rechtsstaatlichen Verfassung, die kulturelle Vorbildwirkung, der amerikanische Traum.

Trump hat alles, was Amerika stark gemacht hat, entscheidend beschädigt. Er hat die Verquickung von Geld und Politik mehrfach demonstriert, bis hin zum persönlichen monetären Vorteil aus der Präsidentschaft. Zur Rechtsstaatlichkeit hat er nie ein Verhältnis gefunden, rechtliche Regeln und Entscheidungen waren für ihn erklärtermaßen dazu da, umgangen zu werden. Die Medien hat er zum Feindbild erklärt, Tatsachen als taktische Variablen eingestuft. Er hat täglich mehrfach gelogen. Er hat die Suprematisten aufgewertet. Sein persönlicher Stil kann nur als abschreckendes Beispiel dienen.

Trump hat bewiesen, dass die US-Verfassung ein schlechtes Modell ist. Die Anhänglichkeit seiner Wähler lassen das demokratische Bewusstsein der Hälfte des Volkes ziemlich übel aussehen. Die Reputation Amerikas hat sich um etliche Etagen nach unten bewegt. Wenn das die westliche Demokratie ist, dann haben jene Recht bekommen, die den Westen der Dekadenz zeihen, und man kann gegen jene, welche die chinesische Diktatur als Modell zunehmend attraktiv finden, schwer argumentieren.

Der Autor ist Soziologe an der Universität Graz

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