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Der Geist aus der Flasche

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Bedrohungspotential, Kettenreaktion, Sicherheitssysteme, Restrisiko, Supergau - die Debatte über das eskalierende, global vagabundierende Kapital wird mit Vokabeln der Atomdiskussion geführt.

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Bedrohungspotential, Kettenreaktion, Sicherheitssysteme, Restrisiko, Supergau - die Debatte über das eskalierende, global vagabundierende Kapital wird mit Vokabeln der Atomdiskussion geführt.

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Die Ruschtrommeln der nationalen und supranationalen Institutionen verkünden den Dschungelbewohnern: „Liberalisierung auf den Geldmärkten schafft Beschäftigung. Deregulierung schafft Stabilisierung.” Nur - die Gruppe der Ungläubigen wächst mittlerweile auch unter den Botschaftsträgern und Vertretern der Geld- und Währungsinstitutionen.

Ein Vertreter der OECD, Paris, nennt (hier namenlos, „weil privat”) in der relativ intimen Atmosphäre einer Tagung unter Fachleuten die Haltung, der Markt regle die Kapitalflüsse besser als jede Begierung es könnte, immerhin einen ideologischen Treibsatz. Im Gespräch für ein öffentliches Medium löst sich die Gefährdung durch Spekulationen und Crashes wieder auf: „Es wäre reine Spekulation, sagen zu wollen, was Spekulation ist und was nicht.”

Die Spaltung geht durch den Kern von Personen, die als Vertreter von Ordnungsinstanzen, Zentralbanken, Währungsfonds für sich nicht mehr klar sagen können, ob sie im Match auf den Geldmärkten Schiedsrichter, Mitspieler (Stürmer oder Verteidiger). Zuschauer oder Kommentatoren sind. Die internationalen Finanzmärkte üben auf die Beteiligten eine paralysierende Wirkung aus, aber die ökonomische Wissenschaft hat keine Spezialabteilung für medizinische Diagnosegeräte.

Das System begründet eine Art globale Komplizenschaft: eine Trennung zwischen den Geschäften von Banken und Brokern ist nicht mehr zu ziehen. Auf dem Euro-Geldmarkt werden bereits zwei Drittel der spekulativen Geschäfte zwischen Banken abgewickelt, und sie verzeichnen weiterhin ein rasantes Wachstum. Zum Beispiel werden im Hochsicherheitstrakt der Trea-sury-Abteilung der größten Bank des Landes allein an einem Brokertisch an einem einzigen Tag an die 1.000 Kontakte abgeschlossen, dabei werden um die fünf Milliarden Dollar umgesetzt. Die Bank bewegt an einem einzigen Tag etwa 100 Milliarden Schilling. Im Jahr setzten die Mega-Spekulations-maschinen Summen um, denen gegenüber Größen wie das österreichische Bruttoinlandsprodukt von 2.300 Milliarden Schilling zu mikroskopischen Kleinigkeiten verblassen.

Das hat Auswirkungen auf die Verfassung der Akteure. Als der Broker Nick Leeson mit riskanten Geschäften die Barings Bank in den Buin trieb und von einer diskret agierenden zu einer öffentlichen Figur wurde, hat er im „Spiegel” in einem Selbstbild dokumentiert, daß seine Aktionen nur Be-Aktionen auf die Aktionen seiner Konkurrenten waren, daß er Täter und Opfer zugleich war, daß somit in einem solchen Automatismus zwar über versagendes Controlling und Krisenmanagement diskutiert werden kann, aber nicht mehr über Kategorien der persönlichen Verantwortung. „In der Figur des Spekulanten wird das Verschwinden des Subjekts - bei oft gesteigertem Imponiergehabe der Akteure - offenkundig. Die Geldvermehrung wird zum Selbstzwang und Selbstzweck. Die Welt wird zum Material der Geldvermehrung” (der amerikanische Ökonom John Ken-neth Galbraith in „Finanzgenies”, einer menschenverständigen Analyse von Spekulationskatastrophen).

Selbst ökonomische Experten sind fasziniert von den technischen Beschleunigungsfakten, die mit der Etablierung vollautomatischer Computersysteme an Banken- und Börsenplätzen verbunden sind. Ohne jede menschliche Intervention können tausende von Kontrakten mit Staatsschuldverschreibungen, Aktien, Devisen, Derivaten binnen Sekunden abgewickelt werden, und zwar global.

Die Faszination kippt in Kapitulation, weil es für die globalen Kapitalströme keine globale Meßstation gibt, geschweige denn eine regulierende Instanz. Da die Ökonomie auch keine Abteilung für monetäre Physik hat, hat sie auch keine Instrumente, um mit den Beschleunigungseffekten zu Bande zu kommen.

Auch Vorstandsvorsitzende von Konzernen kommen mit den Parado-xien des Systems nicht zurecht: „Jedes Mal, wenn ich berichte, wie gut es der Firma punkto Beschäftigung geht, fällt der Aktienkurs.” Schlechte Nachrichten von Entlassungen zehntausen-der Arbeitskräfte mutieren auf den Märkten zu „good news” und treiben die Kurse in die Höhe.

Gewinn- und Benditeerwartungen spalten zwischen Produktion und Kapital, zwischen realer Wirtschaft und Geldmärkten. Die Kapitalströme ex-Internationale Finanzmärkte: Der Geist aus der Flasche

Ausführliches zum Thema „Die Risiken der Geldmärkte” können Sie am Dienstag, 23. Juli, in der Sendung NOVA, Öl, hören. 22.20 bis 23.00 Uhr. pandieren mehr als die Ströme von Waren und Dienstleistungen.

In der Bundesrepublik Deutschland zum Beispiel haben die Warenströme 1985 noch das l,7fache der Kapital -ströme ausgemacht. Nach zehn Jahren hat sich das Verhältnis umgekehrt, die Kapitalströme machen das 3,5fache der Warenströme aus. In der Schweiz ziehen die großen Konzerne ihre Gewinne nur mehr zu 50 Prozent aus der Produktion, zur Hälfte bereits aus spekulativen Finanzveranlagungen. International schätzt man, daß von den ein bis zwei Billionen US-Dollar, die täglich auf den Devisenmärkten umgesetzt werden, nur noch fünf Prozent an reale Produktions- und Güterprozesse gebunden sind. Dazu kommen noch die Geschäfte mit sogenannten „Finanzinnovationen” wie Futures, Optionen, Swaps, den Derivaten, mit denen sowohl das Bisiko von Kontrakten abgesichert als auch spekuliert werden kann.

Diese Vorgänge stellen die Lehrbuch-Dogmen, daß Kapital eingesetzt wird, um zu produzieren und zu ratio-nalisieren, auf den Kopf. Dafür wurde der Begriff „Casino-Kapita-lismus” geprägt.

Das System hat einen direk-^~”~ ten Einfluß auf das Unternehmensverhalten: Firmen versuchen, den Zinsen, die sie an die Banken zu zahlen haben, auszuweichen, indem sie selbst, statt zu investieren, Geld auf den Finanzmärkten anlegen. Diese Strategien gehen zu Lasten von Zulieferbetrieben, Arbeitsplätzen, und sie produzieren vor allem einen Druck auf die Höhe der Löhne. Das Kapital sucht nicht mehr die Orte, wo optimal produziert werden kann, sondern jene Orte mit den höchsten Benditen.

Im Zuge der Liberalisierung haben sich Begierungen der Möglichkeit begeben, das entgrenzte Kapital zu kanalisieren. Mit einer weitreichenden Konsequenz: die nationalen Kontrollmöglichkeiten sind auf private, demokratisch nicht legitimierte Organisationen übergegangen, auf Investmentfonds, Fondsverwaltungen, Devisenhändler, Banken et cetera. Die Märkte haben die nationalen Begierungen entmachtet, die die Liberalisierung selbst in Gang gesetzt haben. Auch hier werden Täter zu Opfern, wobei in den Kreis der Opfer die nationalen Steuerzahler einzubeziehen sind.

Ein Beispiel: Nach seriösen Schätzungen für die Bundesrepublik gehen dem Staatshaushalt jährlich zwischen 50 und 100 Milliarden Mark verloren, weil sich die veranlagten Vermögen der Besteuerung entziehen, durch Flucht in die Off-shore-Zentren, auf Bankenplätze, wo keine Steuern auf Zinserträge eingehoben werden, wo es kaum Auflagen für Kapitalreserven und Bisikoabsicherung gibt.

In der Hitliste dieser Vermögens-Biotope führen Luxemburg, die Kanalinseln, Gibraltar, Lichtenstein. Diese Strategien können zu einem Systemrisiko werden, weil die dadurch wachsenden Haushaltsdefizite selbst eine Quelle der Instabilität sein können. Die Pikanterie bei den ausgelagerten Vermögen besteht darin, daß sie hauptsächlich in Staatsschuldpapieren eingelegt werden, also der Staat zum Schuldner bei jenen Vermögensbesitzern wird, die ihn.um die. Steuer kürzen. Die Budgetdefizite wiederaufführen zu nationalen Spar-paketen, die vor allem jene treffen, die nicht das Vermögen haben, ihr Vermögen in Steueroasen zu deponieren.

Eine eskalierende Spirale, die nationale Begierungen für sich allein nicht mehr abstellen können, die Begriffe wie Verteilungs- und Steuergerechtigkeit auf den Kopf stellen und somit nationale politische und soziale Systeme instabil machen können, wenn der Widerstand der Bürger wächst.

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