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Der große Europaberidit

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Die Forschungs- und Planungsabteilung der Wirtschaftskommission der Vereinigten Nationen veröffentlichte vor kurzem in Genf eine zusammenfassende Darstellung der europäischen Entwicklung im Jahre 1948, wobei die gegebenen Analysen auf den Hintergrund weltwirtschaftlicher Zusammenhänge projeziert wurden. Der mit eingehenden statistischen Daten versehene Bericht stellt einleitend fest, daß Europa im abgelaufenen Jahr einen bemerkenswerten wirtschaftlichen Aufschwung genommen hat, die akuten Verknappungen in der Rohstoff- und Energieversorgung verschwunden sind und die im Vorjahr noch bestimmter in Erscheinung tretenden inflatorischen Tendenzen Rückbildungserscheinungen aufweisen.

Der Bericht zerfällt in neun Hauptabschnitte, die sich mit den Fortschritten in den einzelnen Produktionsbereichen, den Anstrengungen zur Erreichung eines internen wirtschaftlichen Gleichgewichtes (Preis- und Lohnbewegungen), mit den monetären Verhältnissen, den öffentlichen Finanzen, mit der Frage der Kapitalbildung und anderes mehr auseinandersetzen. Besondere Kapitel befassen sich mit der Entwicklung des Welthandels, der geographischen Orientierung der Gücetftiräme und mit der Bewegung der Weltmarktpreise sowie mit der Struktur der Handels- und Zahlungsbilanzen der wichtigsten europäischen Staaten. Ein abschließendes Kapitel ist dem Fortschritt der Wirtschaftsplanung gewidmet, wobei auf die Zielsetzung der einzelnen Pläne in West- und Osteuropa hingewiesen wird; ebenso wird die besondere Problematik der interkontinentalen Zusammenarbeit und alternative Lösungsvorschläge zur Überbrückung der akuten Dollarknappheit gegeben. Verhältnismäßig breiter Raum wird der Frage des Lebensstandards geschenkt, wobei auf die besonderen Zusammenhänge zwischen der notwendigen (europäischen) Produktivitätssteigerung und hier wieder auf die erforderlichen Kapitalinvestitionen hingewiesen wird. Ausführliche Statistiken, Quellennachweise und Beschreibung der angewandten Methoden zur Erfassung der einzelnen wirtschaftlichen Zusammenhänge runden das gegebene Bild ab.

In der Tat handelt es sich hier um ein wissenschaftliches Nachschlagewerk ersten Ranges, das in exaktem Aufbau vorgelegt wird. Der europäische Wirtschaftsaufschwung, der sich in den einzelnen Tabellen ziffernmäßig widerspiegelt, ist im abgelaufenen Jahr außerordentlich eindrucksvoll gewesen. Der Produktionsfortschritt wird gegenüber 1947 (Deutschland inbegriffen)

mit etwa 16 Prozent errechr net. Besonders bemerkenswert sind die Ergebnisse der Schwerindustrie, vor allem der Eisen- und Stahlindustrie, Maschinen- und auch der chemischen Industrie, die (mit Ausnahme von Deutschland) in ihrer Produktionsintensität etwa 30 Prozent über dem Vorkriegsstand liegen. Die Verbrauchsgüterindustrie (zum Beispiel die Textilindustrie) weist ebenfalls gegenüber 1947 gesteigerte Ergebnisse auf, doch konnte sie den Vorsprung der sogenannten Kapitalgüterindustrie noch nicht einholen; das Niveau liegt in den meisten Ländern noch unter Vorkriegsdurchschnitt. Im Zusammenhang mit der sich bessernden Ernährungslage zeigt auch die individuelle Arbeitsleistung eine beachtliche Steigerung, die im Europadurchschnitt etwa 9 Prozent erreicht. Dagegen liegen die Pro- duktionszahllen des landwirtschaftlichen Sektors noch erheblich zurück; lediglich 85 Prozent der Vorkriegsergebnisse wurden 1948 in diesem Bereich gebucht. Der Import von Saatgut und Futtermitteln und von landwirtschaftlichen Maschinen aller Art, nicht zuletzt die steigenden Einfuhren von Düngermitteln lassen im laufenden Wirtschaftsjahr höhere Hektarerträge erwarten. Die Kohlensituation hat eine wesentliche Entspannung erfahren; dagegen zeigt der Sektor der elektrischen Energie nach wie vor Verknappungserscheinungen. (Die Ausbaupläne der österreichischen Wasserkräfte werden die derzeit noch gegebenen Verknappungserscheinungen in der Versorgung mit elektrischer Energie wesentlich mildern.)

Im finanzwirtschaftlichen Bereich stellt der Bericht fest, daß in der Stabilisierung der währungs- und kreditwirtschaftlichen Verhältnisse bemerkenswerte Fortschritte erzielt worden sind. Preise und Löhne, die im Jahre 1947 in den meisten Ländern noch ausgeprägtere Auftriebstendenzen zeigten, waren im wesentlichen beruhigter. Der im Vorjahr noch stark in Erscheinung tretende Infla- tionsdruck konnte in den meisten europäischen Staaten durch Vergrößerung des Produktionsvolumens sowie durch besondere Regierungsmaßnabmen zur Stabilisierung des Budgets und der Währung beseitigt werden. Die Ansätze der einzelnen Budgets zeigen gegenüber 1938 volumenmäßig oft beträchtliche Zunahmen, die 50 Prozent und mehr betragen; vor allem spielen in den europäischen Budgets die erhöhten sozialen Lasten, Preissubsidien und die Liquidierung verschiedener Kriegsfolgen eine Rolle. Insgesamt werden im Durchschnitt heute 6 bis 8 Prozent des Nationaleinkommens für solche Zwecke absorbiert, von den notwendigen Investitionen der öffentlichen Hand ganz abgesehen.

Besondere Anstrengungen wurden zur Steigerung der europäischen Ausfuhr gemacht; sie lag gegenüber 1947 um 28 Prozent höher, obwohl das Ausfuhrvolumen noch immer 18 Prozent unter Vorkriegsniveau liegt. Die Einfuhren liegen um 14 Prozent tiefer als 1938. Eine besondere radikale Änderung ist in der Struktur des europäischen Handels eingetreten. Von den Vereinigten Staaten und von Kanada wurden eine MilliardeDo’Har weniger als 1947 importiert. Dieser Verminderung steht ein Importzuwachs in der gleichen Höhe aus Europa selbst und 612 Millionen Dollar aus verschiedenen Überseeländem (exklusive den USA und Kanada) gegenüber; an dieser Steigerung hat vor allem die Sterlingzone erheblichen Anteil. Von den europäischen Ausfuhren 1947/48 ging nur ein geringer Teil nach den USA und Kanada (weniger als 150 Millionen Dollar), während sich die Exporte nach anderen Überseeländern auf über 700 Millionen Dollar beliefen und damit den Vorkriegsstand überschritten. Großbritannien bestritt hievon allein 55 Prozent. Der innereuropäische Handel erholte sich dagegen langsamer als der Güteraustausch mit Übersee; er stieg von 1947 auf 1948 nur um etwa 25 Prozent. Der West-Ost-Han- del, der nur 42 Prozent des Volumens von 1938 aufweist, liegt somit besonders stark zurück. Die Zunahme des innereuropäischen Handels erfolgte fast ausschließlich auf bilateraler Grundlage, wobei das im Rahmen des Marshall-Planes eingeführte Instrument der sogenannten Drawing Rijįits (Zier hungsrechte) eine besondere Rolle spielt.

Trotz Anstieg der industriellen Produktion und der Ausfuhr sowie Drosselung der In- , flation bleibt für Gesamteuropa nach wie vor ein beträchtliches Zahlungsbilanzdefizit in der Höhe von rund 5 600 Millionen Dollar, insbesondere mit der Westhemisphäre, bestehen. Andererseits weisen die Vereinigten Staaten einen Zahlungsbilanzüberschuß nicht nur mit- Europa, sondern auch mit anderen wichtigen Handelszentren der Welt auf. Die USA-Zahlungsbilanz ist sozusagen nichts anderes als das Spiegelbild des europäischen Defizits. Dieser dualistische Charakter der interkontinentalen Zahlungs- bilanzstruktur ist nach Auffassung des Berichtes eine der Kardinalllfragen, um die sich die wirtschaftliche Gesundung Europas dreht. Lapidarisch stellt der Bericht hiezu fest, daß Europa zur Überwindung dieser Schwierigkeiten entweder seine Ausfuhren erweitern, die Einfuhren drosseln oder auch zu Anleihen greifen müßte. Die Vereinigten Staaten dagegen hätten ihre Importe zu steigern, die Ausfuhren zu drosseln und sich stärker als bisher als Weltbankier einzuschalten. Die Vereinigten Staaten hätten demgemäß ein langfristiges Finanzierungsprogramm zu entwickeln, das in vernünftigen Grenzen einen ununterbrochenen Dollarstrom nach den aufbauwürdigen Teilen der Welt zu lenken habe. Nur auf dieser Grundlage würde es schließlich möglich sein, die für die reibungslose Abwicklung der zwischenstaatlichen Finanztransaktionen erforderliche freie und allgemeine Konvertibilität der Währungen wiederherzustellen.

So wichtig der Ausgleich der Zahlungsbilanzen an sich ist, so bleibt das europäische Fundamentalproblem: Hebung des Lebensstandards, noch offen. Diese Frage ist eine Schicksalsfrage für Europa, die mit der allgemeinen politischen und sozialen Befriedung zusammenfällt. Nur eine Erhöhung der industriellen Produktivität und die Steigerung der Erträgnisse des Ackerbaues können hier die gewünschten Ziele erreichen. Der Bericht gibt in diesem Zusammenhang interessante statistische Vergleiche, (he die beachtliche Verschiedenheit zwischen der industriellen Produktivität der Vereinigten Staaten und Europa aufzeigen. Während vor dem Krieg der industrielle Ausstoß in Europa um etwa ein Drittel höher allis in den Vereinigten Staaten lag, erreichte dieser im Jahre 1948 kaum drei Viertel des amerikanischen Volumens. Die Gründe für dieses Gefälle liegen nach Auffassung der Berichterstatter weniger in dem natürlichen Reichtum der USA und in ihrer besonderen Sozialstruktur, sondern vor allem in der höheren Kapitalausstattung und den wirksameren technischen Methoden, die die Produktivität pro Kopf und Arbeitskraft über das europäische Niveau steigerten. Selbst in den höchstentwickelten (also auch in den vom Krieg nicht unmittelbar in Mitleidenschaft gezogenen) europäischen Gebieten bleibt die Leistungsfähigkeit (also die Kapitalausrüstunig) pro Kopf und Arbeiter gegenüber der amerikanischen um dieHälfte zurück. Für ganz Europa liegt diese Vergleichszahl bei einem Drittel. Dazu kommt, daß auch die individuelle Arbeitsleistung pro Kopf erst langsam nach Beseitigung des akuten Nahrungsmittelmangels und gewisser seelischer Belastungen im Steigen begriffen ist. Auf dem Agrarsektor liegt die Produktivität gegenüber den amerikanischen Verhältnissen noch tiefer.

Um diese Schwierigkeiten zu lösen, bedarf es vor allem einer zielbewußten Kapitalbildungspolitik, dies um so mehr, als durch den Krieg die Kapitalausstattung der europäischen Wirtschaften durch die schweren Verluste an Schiffsraum, anderen Transportmitteln, Maschinen- und Industrieanlagen, Wohnraum und Rohstofflagern aller Art arg gelitten hat. Wenn auch Europa, dank den Zuflüssen des ERP-Programms, im Jahre 1948 bereits um ein Drittel mehr Anlagekapital (vor allilem in der Kapitalgüterindustrie) investierte als vor dem Krieg (etwa 5000 Millionen Vorkriegs- dollars), so bleiben diese Investitionen gegenüber den amerikanischen mit 10.000 Millionen Dollar (Wert 1938) noch erheblich zurück. Innerhalb der europäischen Aufbaugemeinschaft nahmen Großbritannien und Frankreich die Hälfte des Gesamtinvestitionskapitals für sich in Anspruch. Der Bericht kritisiert in diesem Zusammenhang, daß die Investitionen des landwirtschaftlichen Sektors gegenüber den Veranlagungen in der europäischen Industrie nachhinken.

Um die Gefahr irgendwelcher Überkapazitäten zu vermeiden, wird im Rahmen der europäischen Gesamtplanung eine genaue Koordination der einzelnen Produktionsprogramme verlangt. In der nächsten Zeit wird daher der Gedanke des industriellen Programmausgleiches und nicht zuletzt für bestimmte Produktionen einer Standortorientie- rang in den Vordergrund zu rücken sein. Enst auf dieser Linie wird die im Interesse einer interkontinentalen Zusammenarbeit notwendige engere wirtschaftliche Verflechtung Europas errreicht werden können.

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