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Der vergesellschaftete Arzt

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Das Schweizerische Ostinstitut in Bern hat vor kurzem eine Untersuchung über die Lage der Mediziner im kommunistischen System veröffentlicht. Aus verschiedenen Gesichtspunkten verdienen die vom Berner Institut dargestellten Erkenntnissee und Beobachtungen gerade jetzt, da in Österreich eine Reform des Krankenversicherungswesens zur Debatte steht, erhöhte Aufmerksamkeit.

Der Arzt ist im staatlichen Gesundheitswesen der Ostblockstaaten nicht nur Diener am Kranken, sondern zugleich auch Polizist des staatlichen Arbeitgebers. Eine seiner Hauptpflichten besteht darin, dafür zu sorgen, daß sich niemand unter dem Vorwand einer Krankheit von der Arbeit drückt. Jeder Arzt hat also neben seiner medizinisehen Tätigkeit im kommunistischen System auch andere Funktionen, die zum Beispiel in Österreich dem Chefarzt der Gebietskrankenkasse zukommen. Ein umfangreicher Kontrolldienst sorgt für die entsprechende Verflechtung von Gesundheitswesen und Arbeitsdisziplin. Die Zeit, die der „Angestellte im öffentlichen Gesundheitswesen“ damit verbringt, Scheine und Formulare auszufüllen, und Kontrollen durchzuführen übertrifft die Zeit, die er für seine eigentliche Berufsausübung aufwenden kann. Dazu kommt noch die „gesellschaftliche Tätigkeit“ im Sinn der kommunistischen Partei, wie sie bei den anderen Berufsständen auch ausgeübt werden muß.

Zuwenig Ärzte

Erst nach Kenntnis dieser Grundbedingungen kann man verstehen, warum der einzelne Patient nicht genügend betreut werden kann. Trotz der Sorge, die der kommunistische Staat um die Heranbildung eines zahlenmäßig genügenden Fachkaders auf sich nimmt, verhindert das System ausreichende Betreuung: Auf 10.000 Einwohner zählt man in der Sowjetunion heute bald 18 Ärzte gegenüber 15 in Ungarn. Nur in der deutschen Sowjetzone ist die Ärztezahl mit acht pro 10.000 Einwohner völlig unzureichend, weil bis zur hermetischen Abriegelung in Berlin zu viele Vertreter dieses Berufsstandes „mit den Füßen stimmten“. Zum Vergleich: In Wien gibt es knapp 4000 Ärzte, davon 1317 praktische Ärzte, 1376 Fachärzte und 1254 unselbständige, vorwiegend Spitalsärzte, woraus sich ein Verhältnis von rund 40 Ärzte pro 10.000 Einwohner errechnet. Auch die Verteilung der Ärzte über das Gebiet der einzelnen kommunistischen Staaten ist nicht besonders günstig. Die extremsten Verhältnisse sind in Polen anzutreffen: In Warschau entfallen 3000 bis 3 500 Personen auf einen Arzt, in kleineren Städten und auf dem Land jedoch bis zu 20.000 und 30.000 Einwohner.

Ideologie wichtiger als Knochenkunde

Völlig ungenügend sind auch die Spitalsverhältnisse. Auf 10.000 Einwohner gibt es in der relativ gutdotierten russischen Föderation 80 Spitalsbetten, in Ungarn 70, in Polen 45. Dabei ist zu bedenken, daß Heimpflege im nötigen Rahmen kaum möglich ist. Der sowjetischen Landespresse war zu entnehmen, daß zum Beispiel in Armenien die Kindersanatorien in solchem Zustand sind, „daß sich die Eltern weigern, ihre Kinder dort pflegen zu lassen“.

Die ideologische Schulung wird bei den Ärzten ebensowenig vernachlässigt wie bei den anderen Intellektuellen. Marxismus-Leninismus ist an den medizinischen Hochschulen ein Hauptfach.

(In der Sowjetunion sind die medizinischen Fakultäten an den Universitäten aufgehoben und durch eigene medizinische Universitäten oder Hochschulen ersetzt worden. Auch in den Volksdemokratien gibt es immer häufiger Akademien oder Institute für die medizinischen Berufe.) Für das Staatsexamen haben die ideologischen Fächer entscheidende Bedeutung. Der Beschluß einer Ärztekonferenz in Ungarn vor einem Jahr lautete: „Der Arzt hat seine Patienten politisch zu beeinflussen; er muß politischer Agitator sein.“

Materiell relativ gutgestellt

Politische Agitatoren kann man nicht schlecht bezahlen. In der Sowjetunion, wo der durchschnittliche Monatsgehalt eines Intellektuellen unter 100 Rubel (der Rubel hat nach Angabe des Schweizer Institutes eine Kaufkraft von zwei Franken) liegt, kommt ein Arzt auch im relativ unergiebigen Verwaltungsdienst (Gerichtsmedizin) auf 130 Rubel (das? wären 1560 Schilling) oder mehr. Viele Mediziner haben aber gleich zwei oder drei Stellen inne, für welche sie vollen Lohn beziehen. Die Kumulierung von Fixgehältern, die der Staat direkt oder mittelbar (über Staatsbetriebe) auszahlt, bildet einen wesentlichen Bestandteil der relativ günstigen materiellen Stellung. So arbeiten in 80 Prozent der polnischen Betriebe die voll angestellten Betriebsärzte nur zwei Stunden pro Tag.

Keine Privatkonsultationen

Während in der Sowjetunion der Ärzteberuf vollständig „vergesellschaftet“ und jeder Mediziner ein Angestellter ist, variieren die Verhältnisse in den kommunistischen Ländern Osteuropas von Fall zu Fall. Am stärksten angeglichen sind sie im „Mustersatelliten“ CSSR, wo bereits vor vier Jahren sowohl die ärztlichen als auch die zahnärztlichen Privatkonsultationen abgeschafft wurden. Ausnahmen bestehen noch für Professoren und Dozenten und für pensionierte oder invalide Mediziner, denen die Möglichkeit geboten wird, ihre Rente aufzubessern.

Zwischenstufe Ärztegenossenschaft

Polen ist — wie so oft — das interessanteste Land. Grundsätzlich ist die Führung einer Privatpraxis jedem Arzt erlaubt, der mindestens sieben Stunden im Tag für den öffentlichen Gesundheitsdienst arbeitet. Eine besondere Zwischenstufe zwischen privater und öffentlicher Tätigkeit gibt es in Polen in Form der sogenannten „ärztlichen Arbeitsgenossenschaften“, deren es gegenwärtig 44 gibt. Die Mitglieder dieser Arbeitsgenossenschaften kaufen ihre Einrichtung gemeinsam, sozusagen auf genossenschaftlicher Basis; die Patienten können ihren Arzt selbst auswählen! Die Konsultationen bei den Ärzten der Arbeitsgenossenschaften kosten zwischen 36 und 150 Zloty. (Der Monatslohn eines guten Facharbeiters: 1500 Zloty.)

Die Ansicht, daß im kommunistischen Staat die gesundheitliche Betreuung vollständig vom Staat bezahlt werde, entspricht nicht den Tatsachen. Im allgemeinen ist die Krankenversicherung den Gewerkschaften unterstellt, die in der Sowjetunion — nicht nur dort — auch Spitäler, Erholungsheime und so weiter besitzen. Die Versicherungsgebühren sind in den ziemlich hohen Mitgliedsbeiträgen (4,1 bis 9 Prozent des Lohnes) inbegriffen. In einzelnen Volksdemokratien (zum Beispiel in Ungarn) gibt es auch direkte Gehaltsabzüge. Völlig gratis ist in einigen kommunistischen Staaten nur die ärztliche Betreuung von Kindern, die, etwa in der CSSR, ohne Rücksicht auf die Versicherung der Eltern unentgeltlich behandelt werden.

Feldschere als Betriebsärzte

Der Begriff des „Feldschers“, nach unserem Sprachgebrauch ein Militärkrankenpfleger vergangener Zeiten, ist in den kommunistischen Staaten durchaus aktuell. Es handelt sich um einen Arztgehilfen mit Mittelschulbildung, der in der Sowjetunion nach dreijähriger praktischer Arbeit innerhalb eines gesetzlich festgelegten Rahmens selbständig ärztliche Behandlungen durchführen kann. (Das Hochschulstudium einschließlich klinischer Praxis beträgt für Medizin in der Regel nur sechs Jahre.) Der Feldscher ist häufig Betriebsarzt kleinerer Firmen oder Leiter der Zentren für ambulante Pflege.

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