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Der Zug der 68 Millionen

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Mitten in der Hochsaison noch freie Zimmer in den meistbesuchten Urlaubsgebieten Österreichs? Eine Nachricht, der man kaum Glauben schenken kann. Und doch — mit Erstaunen berichten heimkehrende Urlauber immer wieder von dem Täfelchen „Zimmer frei”, sonst einem Kennzeichen der vor- oder nachsommerlichen Reisezeit. Krise des Fremdenverkehrs also? Stimmt etwas nicht im Konzept unserer Fremdenverkehrsstrategen?

Nun, es ist bekannt — wird doch oft genug darauf hingewiesen —, daß der Fremdenverkehr Österreichs wichtigster Devisenbringer ist. Der Devisennettoertrag 1961/62 betrug ungefähr 7,2 Milliarden Schilling und ist durchaus in der Lage, unsere passive Handelsbilanz fast auszugleichen. Was soll also werden, wenn der devisenbringende Strom ausländischer Touristen plötzlich langsamer fließt oder zu versiegen droht?

Der österreichische Fremdenverkehr sieht sich bei der Untersuchung dieser schwerwiegenden Fragen vor allem drei Problemen gegenübergestellt:

• dem Problem des Massentourismus,

• dem Problem des immer mehr fühlbaren Arbeitskräftemangels,

• dem Fehlen einer die kompliziert gewordene Materie regelnden Bundesgesetzgebung.

Die Klärung der Begriffe „Massentourismus” und „Sozialtourismus” scheint noch immer nicht endgültig erfolgt zu sein. Vor einigen Jahrzehnten war der Begriff eines Urlaubes dem größten Teil der Arbeitnehmer noch durchaus unbekannt, der „Sozialtourismus”, also ein — von welcher Seite auch immer — subventionierter Reiseverkehr, hat da deutliche und sehr notwendige Abhilfe geschaffen. Der Massentourismus dagegen hat mit echtem Sozialtourismus nicht das geringste zu tun. Die Ströme von Reisenden, die während des Sommers 1963 kreuz und quer durch Europa geleitet werden, das ist „Massentourismus”. Erfahrene Fachleute schätzen die Zahl der Reisenden, die, am Gängelband der Reiseleiter, über Europas Ferienstraßen vom Nordkap bis Sizilien strömen, auf ungefähr 68 Millionen…

Auch Österreichs Fremdenverkehr hat seinen Anteil an diesem ungeheuren Strom ferienhungriger Touristen. Für Österreich entsteht mit dem Massentourismus allerdings eine Reihe von Fragen, denen sich andere führende Fremdenverkehrsländer nicht gegenübergestellt sehen. Das beginnt schon bei der Werbung um den Gast. Soll Österreich um den zahlungskräftigen Einzelreisenden werben? Oder soll sich die Werbung an den Urlauber wenden, der während seiner vorausbezahlten zwei Urlaubswochen mit knappem Budget haushalten muß? Hochschulprofessor Dr. Paul Bernecker, Chef der Österreichischen Fremdenverkehrswerbung, verteidigt sein Konzept: „so können wir immer wieder hören, daß die Schweiz zwar weniger Touristen, aber dafür kaufkräftigere Touristen bei sich sieht. Selbst in einem Schweizer Fachblatt wird diese österreichische Bemerkung wiederholt und führt zu der Feststellung: .Österreich übertrifft uns zwar in der Frequenz der Auslandsgäste, diese lassen aber bei uns mehr Geld zurück.’ “ Professor Bernecker führt diesen Trugschluß auf eine andere Auswertungsmethode zurück: „In der Schweiz wird so vorgegangen, daß man die Nächtigungen der ausländischen Gäste nach Hotelkategorien zusammenstellt und jede Kategorie mit einem Ausgabenmultiplikator vervielfacht. Nach dieser Methode”, fährt der energische Fremdenverkehrsfachmann fort, „wären Österreichs Erträge um schätzungsweise zwei. bis drei Milliarden größer als im Ausweis der Nationalbank festgehalten.”

Was nun die mögliche Änderung eines Zieles der Österreichischen Fremdenverkehrswerbung betrifft, so meint Professor Bernecker: „Es kann im gesamtwirtschaftlichen Leben hier keine Frage des .Entweder-Oder’ geben, sondern nur das ,Sowohl-als-auch’ kann zur Richtschnur der vielfachen und vielfältigen Werbebemühungen genommen werden.”

Immerhin zeitigte die doch etwas einseitige Bevorzugung des Massentourismus vor dem Individualtourismus schon bedenkliche Folgen:

Die abgesetzten Salzburger Fernseh- „Stadtgespräche” etwa sollten sich mit dem Fragenkomplex befassen, der durch die grundlegende Änderung der sozialen Struktur der Festspielbesucher entstanden ist. Max Reinhardt hatte die Festspiele seinerzeit unter Voraussetzungen geplant, die heute ganz und gar nicht mehr zutreffen. Der Festspielgast des Sommers 196? betrachtet die Festspiele nicht als Verlängerung der Wiener Saison, sondern er klettert morgens aus dem Autobus, wandert — nicht selten unpassend gekleidet — einige Stunden in der Stadt umher, besucht abends eine Opernvorstellung und fährt am nächsten Tag weiter, ohne viel mehr als Würstel und Bier konsumiert zu haben. Es ward eine Lösung zu suchen sein, die den Festspielgedanken in die Zeit des Massentourismus zu übertragen imstande ist.

Eine andere Gefahr des Massentou- rismus wird vielfach noch übersehen. Freilich ist es verständlich, wenn Vermieter oder Wirt schon im Herbst mit dem Vertreter eines der großen deutschen, britischen oder holländischen Reiseunternehmen einen Vertrag abschließen, der ihnen über die Sommerszeit ein volles Haus garantiert. Man fragt sich aber, ob dem Fremdenverkehr damit wirklich gedient ist. Wenn — wie beispielsweise in Kärnten oder Tirol — ganze Landstriche als von „Scharnow” oder „Hummel” ausgebucht gelten, so wird dem Einzelreisenden die Lust genommen, seinen Urlaub in diesem Gebiet zu verbringen. Der Trubel und die „Heiterkeit”, die in diesen Gegenden herrschen, sind nur zu gut bekannt. Wer wirklich Ruhe sucht, wird da entsetzt fliehen und die Landschaft, sei sie auch noch so reizvoll, meiden.

Charakteristisch für die Organisation dieser oft tatsächlich sehr billigen Reisen ist der Ausspruch eines leitenden Angestellten eines der größten deutschen Reisebüros, der zunächst darauf hinwies, daß bereits 3 5 Prozent der Bürger der Bundesrepublik Deutschland ihren Urlaub in Österreich verbracht haben, und dann stolz erklärte: „Nun wollen wir dafür sorgen, daß die nächsten 40 Prozent auch noch kommen!”

Sollte sich der Strom des Massentourismus eines Tages jedoch andere Ziele wählen, dann sieht es freilich traurig aus. Die — wenn vielleicht auch ungewollte — Vernachlässigung des Individualtourismus muß sich dann bestimmt rächen.

Daß in Österreich der Fremdenverkehr nicht durch Bundesgesetze geregelt ist, sondern der Kompetenz der Länder zufällt, wirkt sich ebenfalls nicht immer günstig aus. Die ständige Erhöhung der Bettenzahl birgt, so gut sie auf dem Papier aussieht, eine große Gefahr in sich. Die 68 Millionen Menschen, die diesen Sommer in Europa unterwegs sind, wollen nämlich nicht nur schlafen, sondern auch essen, baden, geputzte Schuhe haben, kurzum alles, was zu einem wirklich gepflegten Service gehört.

Sache einer vom Bund gesteuerten Fremdenverkehrsgesetzgebung müßte es da sein, die Relation zwischen der steil ansteigenden Kurve der verfügbaren Privatbetten und den zur Verfügung stehenden gastgewerblichen Betrieben herzustellen. Sonst geht die Rechnung nämlich nicht auf.

Es ist gewiß einzusehen, daß es nicht leicht ist, geeignetes Personal zu bekommen. Die ungeregelte Freizeit, die doch oft schlechten Bedingungen, das alles trägt mit dazu bei, daß wirklich qualifizierte Fachkräfte immer rarer werden. Vom „Herrn Ober”, der nur noch im Naturschutzpark „Wiener Kaffeehaus” gehegt und gepflegt wird, sei hier gar nicht die Rede. Auch das Küchenpersonal oder der Hausdiener werden sich in der Zeit der Vollbeschäftigung rasch einen anderen Abeitsplatz gefunden haben. Es ist nämlich gar nicht einfach — und damit verlagert sich die Diskussion auf philosophisch-psychologische Ebene —, noch jemanden zu finden, der „zu Diensten” des Gastes steht. Natürlich spielt da auch die Bequemlichkeit mit, man läßt sich eben doch lieber bedienen als selbst den Diener zu machen. Trotzdem ist auch hier der Massentourismus nicht ganz unschuldig: Wenn der kleine Mann einmal Ferien macht, ist er herzlich froh, einmal jemanden zu finden, mit dem er herumkommandieren kann …

Daß das Personalproblem endlich einmal einer Lösung zugeführt werden muß, das wissen auch Österreichs Fremdenverkehrsexperten. Die Lösung allerdings ist noch nicht gefunden. Italienische und spanische Saisonkellner arbeiten längst in Deutschland oder in der Schweiz, in Österreich allerdings konnte man sich erst dann zur Anwerbung ausländischen Personals entschließen, als die qualifizierten Kräfte schon wegengagiert waren. So behelfen sich manche österreichische Betriebe eben auf ihre Weise: Familienmitglieder packen kräftig mit an, Werkstudenten balancieren die Bierkrügel über die Köpfe der Gäste …

Andere Betriebe dagegen machen es sich einfach, zu einfach sogar: Sie schließen den Restaurantbetrieb und beschränken sich auf die Zimmervermietung. Diese „Lösung” wird immer mehr üblich. Daß sie aufs entschiedenste abzulehnen ist, leuchtet wohl ein. Der Spirituskocher des Gastes soll nicht Symbol des in Österreich verbrachten Urlaubes werden.

Verständlich ist der langsam einsetzende Rückgang des Massentourismus. Was zunächst noch höchstens als Randerscheinung des .Fragenkreises auffällt, kann schon morgen eine grundlegende Änderung in der Struktur unseres Fremdenverkehrs erfordern. Die Einsicht und, wo sie fehlt das „Sozialprestige”, in unserer Zeit Motor so vieler „Richtungen” oder „Wellen”, verlangt ganz einfach, daß „man” eben nicht mehr in großen Herden auf Urlaub fährt. Die Rückkehr zur stillen Sommerfrische ist — wenigstens was die österreichischen Verhältnisse betrifft — unverkennbar. Dieses Suchen nach Stille und Frieden sollte für die Strategen des österreichischen Fremdenverkehrs ein Zeichen sein, nicht mehr ganz so felsenfest auf die lärmenden Fremdeninvasionen zu vertrauen, sondern sich doch - im Rahmen einer langfristigen Planung — wieder mehr dem Individualtourismus zu widmen.

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