Die Gesellschaft von morgen wird fragmentiert sein

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Einigermaßen sicher ist nur, dass die stabilen Arbeitsverhältnisse und relativ einheitlichen Werte der Zeit von 1945 bis etwa 1980 der Vergangenheit angehören. Die Sozialforschung beobachtet in der jüngsten Vergangenheit eine immer raschere Abfolge von verschiedenen "Moden" im Hinblick auf vorherrschende Wertekonstellationen.

Nach dem "Materialismus" und "Hedonismus" der Nachkriegszeit (bis in die 1980er Jahre) kam - mit dem neuen Umweltbewusstsein seit den späten 1970er Jahren - der "Postmaterialismus", der inzwischen bereits wieder anderen Wertekonstellationen gewichen ist, denen im Allgemeinen eine erhebliche Bedeutung des jeweiligen eigenen "Ego" gemeinsam ist.

In den frühen 1990er Jahren folgte der "Soft-Individualismus", dessen Kennzeichen der ethisch und ökologisch korrekte Konsum war. Gegen diese "Diktatur der guten Gesinnung" trat freilich Mitte der 1990er Jahre wieder eine Gegenbewegung auf, die "Neue Dekadenz" oder der "Neo-Dandysmus".

Diese Abfolge betrifft aber nur die mehr oder weniger meinungsbildenden urbanen, mobilen, jüngeren und höher gebildeten Schichten, keineswegs die ganze Gesellschaft oder auch nur größere Teile davon. Interessanterweise erscheint die österreichische Gesellschaft ansonsten eher als eine des Wertekonsenses: Im Hinblick auf Fragen der Ökonomie, der Politik, der Arbeitsplätze, der Umwelt, haben große Teile der österreichischen Gesellschaft ziemlich analoge Wertvorstellungen.

Im Allgemeinen wünschen sich die Menschen politische Stabilität, sichere Arbeitsplätze, eine gut funktionierende Familie, eine saubere Umwelt und ein Einfamilienhaus mit Garten. Nur in einem, allerdings sehr entscheidenden Punkt, zeigen sich Dissenslinien. Sie verlaufen längst nicht mehr entlang der traditionellen Partei- oder Klassenlinien, die gemeinsam mit dem Lagerbindungen ihre soziale Prägekraft stark eingebüßt haben.

Dissens über die Ehe Die hier angesprochenen Dissenslinien betreffen die Frage der sexuellen Treue als eine notwendige Voraussetzung für die Ehe und sie betreffen die Einstellung gegenüber einem traditionellen Geschlechterrollenverständnis, in dessen Rahmen den Frauen nach wie vor Haushalt und Kindererziehung zugewiesen wird, wobei die Erwerbstätigkeit von Frauen nur akzeptiert wird, wenn sie finanziell notwendig ist. Insgesamt dominiert in der österreichischen Erwachsenenbevölkerung ein solches traditionelles Familien- und Geschlechtsverständnis, meist zusammen mit einer stark positiven Einstellung zu staatlichen Umverteilungsmaßnahmen (Sozialstaat).

Sehr viele von diesen Menschen sind Technik-skeptisch, da technische Innovation Arbeitsplätze gefährde. 59 Prozent der Erwachsenen teilen solche Positionen. Ungefähr ein Drittel der Befragten lehnen hingegen die traditionelle Rollenverteilung entschieden ab, sie sind für eine Erleichterung der Scheidung und gegenüber der Abtreibung neutral. Staatliche Umverteilung wird weniger stark befürwortet als in der ersten Gruppe.

Eine dritte, deutlich kleinere Gruppe, steht etwa in der Mitte zwischen den beiden Extremwerten. Diese "latenten Klassen" stehen mit sozioökonomischen Gegebenheiten und politischen Orientierungen in einem gewissen, allerdings nicht sehr deutlich ausgeprägten Zusammenhang. So sind die "Antitraditionalisten" überdurchschnittlich häufig jünger, ledig, kinderlos, erwerbstätig und haben einen vergleichsweise höheren Bildungsstand. Nichttraditionelle Parteipräferenzen (etwa "grüne") treten ebenfalls überdurchschnittlich häufig auf, dagegen ist SPÖ-Sympathie ganz unterdurchschnittlich vertreten.

Die latente Klasse der "Traditionalisten" rekrutiert sich häufig aus Pensionisten oder Hausfrauen sowie aus Personen mit Kindern, mit niedererem Bildungsstatus und geringerem Einkommen, sie stammt überdurchschnittlich stark aus kleineren Gemeinden und streut über die nicht-grünen Parteien. Personen mit ÖVP-Sympathie lehnen Scheidung und Abtreibung besonders deutlich ab. Die Dissenslinie hinsichtlich der Rolle der Frau verläuft dabei innerhalb der Geschlechter und nicht zwischen den Geschlechtern.

Auch wenn dies die Österreicher noch nicht wahrnehmen wollen: Die Gesellschaft steuert wohl auf amerikanische Zustände zu, nämlich auf eine "multi-optionale Consumer-Society mit einem hohen Grad an Freiheit und Selbstbestimmung für den Einzelnen." (Weinzierl) Der Einzelne erscheint in dieser Gesellschaft kaum mehr durch traditionelle Bindungen eingeengt, andererseits bedeutet dies auch das Fehlen von Rückhalt in Krisenzeiten.

Dadurch zerfällt diese moderne Gesellschaft zunehmend in nicht nur real, sondern auch symbolisch immer schwieriger miteinander kommunikationsfähige Teilbereich - Land und Stadt, ältere und jüngere Generationen, "Ausländer" und "Inländer", "Pensionisten" und "Aktive", Inhaber von stabilen Vollarbeitsplätzen und nur sporadisch Beschäftigte bzw. Arbeitslose.

Diese Fragmentierung, die unter andrem auch in der Trennung zwischen den Sprechern österreichischer Dialekte und Umgangssprachformen und dem stark ans Bundesdeutsche angenäherten Soziolekt der "jungen" Infotainment-Gesellschaft ihren sprachlichen Ausdruck findet, erschwert das politische Geschäft, da es schon schwierig genug war (und ist), zwischen klassischen sozialen Gegensätzen wie zwischen Kapital und Arbeit, Stadt und Land, Zentrum und Peripherie tragbare Kompromisse herzustellen, noch viel schwieriger aber, zwischen immer schärfer ausgedrückten Interessen oft recht kleiner Gruppen allgemein verbindliche Kompromisse zu finden.

Sozialgeschichte Österreichs Von Ernst Bruckmüller,Verlag für Geschichte und Politik,586 Seiten, Hardcover, 8 farbige Karten, öS 680,-/e 49,42

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