6628283-1956_22_08.jpg
Digital In Arbeit

Die ideologischen Grundlagen der österreichischen Sozialversicherung

Werbung
Werbung
Werbung

So alt wie die Menschheit selbst ist ihre Sehnsucht nach Freiheit von Angst und Not. Je schwerer Furcht und Not auf dem einzelnen lasten, um so nachhaltiger ist das Streben nach Sicherheit. Die Sozialversicherung ist der sozialpolitische Versuch, mit Hilfe der Gemeinschaft dem Leben des einzelnen und seiner Familie in bestimmten Notfällen Schutz zu gewähren. Der Zusammenschluß zu einer Gemeinschaft ist die Quelle des sozialen Aufstiegs der Arbeiter und Angestellten. Der Versicherungsgedanke verwirklicht das Prinzip der Solidarität auf wirtschaftlichem Gebiet. Es war naheliegend, daß sich die sozialpolitischen Bestrebungen des 19. Jahrhunderts des Versicherungsgedankens bedienten, um ihre Ziele zu erreichen. Die Vorläufer der späteren Sozialversicherung sind nahezu überall Versicherungsgemeinschaften auf freiwilliger Grundlage; der Gesetzgeber hat in der weiteren Folge nichts anderes getan, als diese Einrichtungen zu übernehmen sowie den Mitgliederkreis und ihre Aufgaben durch gesetzliche Bestimmungen zu regeln.

In der Sozialversicherung werden die Beiträge der der Riskengemeinschaft angehörenden Personen — das sind vornehmlich Arbeiter und Angestellte — zur Finanzierung der Leistungen in der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung verwendet. Die von den Versicherten zu entrichtenden Beiträge sind somit der Ausdruck der organisierten Selbsthilfe der Versicherten. Der Beitragsanteil der Dienstgeber und in der Pensionsversicherung die Beitragsleistung des Staates bringt die Mitverantwortung der gesamten Bevölkerung an der Existenzsicherung der unselbständig Erwerbstätigen deutlich zum Ausdruck.

Die österreichische Sozialversicherung hat eine rund 70jährige Entwicklung durchschritten; diese ist durch eine Ausdehnung des persönlichen Geltungsbereiches und durch eine hedeutende Verbesserung der Leistungen gekennzeichnet. Die Krankenversicherung hat nicht nur die Aufgabe eines umfassenden Gesundheitsdienstes zu erfüllen, sondern sie sieht auch Geldleistungen bei Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit, bei Mutterschaft und beim Tod des Versicherten oder eines Angehörigen vor. Die Unfallversicherung ist mit beachtlichem Erfolg bemüht, das Schwergewicht ihrer Tätigkeit von. der Rentenzahlung auf die Heilbehandlung und auf die Unfallverhütung zu legen. Die Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung, die unter dem Begriff Pensionsversicherung zusammengefaßt wird, hat erst kürzlieh durch das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz eine Neugestaltung des gesamten Leistungsrechtes erhalten, die zahlreiche Verbesserungen der Leistungen in sich schließt.

Die Sozialversicherung ist zu einem festen Bestandteil der sozialen Ordnung geworden. Ihre Bedeutung beschränkt sich längst nicht mehr darauf, den Versicherten und ihren Familien ein Hort sozialer Sicherheit zu sein. Das Ausmaß und die Wirksamkeit der Hilfeleistung an den einzelnen hat es mit sich gebracht, daß die Sozialversicherung heute für den Bestand einer geordneten staatlichen Existenz unerläßlich ist.

Die Volksgesundheit verdankt zu einem großen Teil der sozialen Krankenversicherung ihren hohen Stand; denn auch durch diese wurde die Entwicklung der medizinischen Wissenschaft in den letzten 80 Jahren wesentlich gefördert und vor allem den unbemittelten Staatsbürgern dienstbar gemacht. Der Stand der Volksgesundheit ist von-großem Einfluß auf die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft. Die Steigerung des Sozialproduktes und die Hebung des Lebensstandards ist somit zu einem nicht unerheblichen Teil auf die Tätigkeit der sozialen Krankenversicherung zurückzuführen. Die Gewährung von fast 800.000 Renten monatlich durch die Pensions- und Unfallversicherung bedeutet darüber hinaus eine gewichtige Steigerung der Konsumkraft, die sich in einer weiteren Stärkung der Volkswirtschaft auswirkt.

Der Bestand eine Volkes hängt von seiner biologischen Kraft ab. Oesterreich versucht auf diesem Gebiet in letzter Zeit mit großer Anstrengung, durch familienpolitische Maßnahmen den Willen zum Kind zu stärken. Es verdient festgehalten zu werden, daß die österreichische Sozialversicherung seit Jahrzehnten in aller Stille eine sehr wirksame Familienpolitik betrieben hat. Die Einbeziehung der Familienangehörigen in den Schutz der Krankenversicherung — und zwar ohne zusätzliche Beitragsleistung —, die besonderen Leistungen bei Mutterschaft und die Hinterbliebenenversorgung durch die Unfall- und PCnsionsversicherung sind echte Familienleistungen.

Wenn auch die österreichische Sozialversicherung durch die Kodifikation im Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz vom 9. September 1955 einen bemerkenswert hohen Stand erreicht hat, wie insbesondere der Vergleich mit ausländischen Einrichtungen derselben Art beweist, so gibt es doch auf dem Gebiet der Sozialpolitik keinen Stillstand. Jede gute Sozialpolitik muß auf den soziologischen, kulturellen und wirtschaftlichen Gegebenheiten aufgebaut werden. Das bedeutet, da gerade diese Umwclt-voraussetzungen einem steten Wandel unterworfen sind, daß die Sozialpolitik, wenn sie lebensnah und wirksam bleiben soll, sich stets anpassen muß. Auch die österreichische Sozialversicherung unterliegt diesem Fluß der Dinge und wird auf dieser Grundlage ihre weitere Entwicklung finden müssen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung