„Die Kernfunktion von Kritik und Kontrolle muss gewährleistet sein“

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Unabhängiger, qualitativer Journalismus erfüllt für eine demokratische Gesellschaft eine unersetzbare Funktion. Diese sollte wie Infrastruktur finanziert werden, meint die Journalistik-Wissenschafterin Irene Neverla.

Die Österreicherin Irene Neverla ist Professorin und Programmdirektorin am Institut für Journalistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Hamburg. DIE FURCHE traf die Wissenschafterin in Wien zum Gespräch über Journalismus.

Die Furche: Man hört gelegentlich vom Ende des Journalismus. Was hat es damit auf sich?

Irene Neverla: Die Rede vom Ende des Journalismus ist so alt wie der Journalismus. Das hat damit zu tun, dass Journalismus von Anfang an eine Paradoxie, eine Schizophrenie in sich barg. Einerseits hat er eine wichtige Funktion in der Gesellschaft, zumal in der demokratischen. Er besorgt die Herstellung von Öffentlichkeit, betreibt die Kritik und die Kontrolle der Mächtigen. Er bringt die Themen hervor, über die sich die demokratische Gesellschaft verständigt. Andererseits ist er ein Geschäftszweig. Mit jedem Schub, mit dem sich die wirtschaftlichen Bedingungen entwickeln und verändern und technische Neuerungen hinzukommen, ist regelmäßig vom Ende des Journalismus die Rede. Dass dies heute wieder einmal so ist, ist kein Wunder. Der wirtschaftliche Druck hat enorm zugenommen. Durch die technische Entwicklung scheint journalistische Tätigkeit etwas Alltägliches, etwas Vertrautes zu sein. Jeder kann seinen Blog, seine Bilder ins Netz stellen. Jetzt zu sagen, man brauche daher keinen Journalismus mehr, ist natürlich Unsinn. In einer hoch komplexen, arbeitsteiligen Gesellschaft muss es immer Spezialisten geben, die sich mit den Aufgaben der aktuellen Informationsverarbeitung befassen.

Die Furche: Das Internet erhöht das Substitutionsrisiko, durch die Krise fehlen Werbeerlöse. Wie kann sich Journalismus unverzichtbar machen?

Neverla: Die Frage ist, wie können Segmente aufrecht bleiben, die nicht so infiziert sind wie die Tageszeitung Österreich, die nichts mehr mit Journalismus zu tun haben, sondern Marketingprodukte sind. Man muss neu nachdenken darüber, inwieweit eine moderne Gesellschaft sagt, wir brauchen Journalismus. Die sich das etwas kosten lässt, um diese demokratisch wichtige Institution zu finanzieren. Es darf dabei keine Berührungsängste geben, auch Stiftungsmodelle sind denkbar, sofern sie wirtschaftliche Unabhängigkeit gewährleisten.

Die Furche: Was ist denn Qualitätsjournalismus?

Neverla: Wie gesagt, die Herstellung von Öffentlichkeit, die Kritik und die Kontrolle von Macht bei Einhaltung medienethischer Regeln. . Wenn das erfüllt ist, dann hat Qualitätsjournalismus seine Funktion erfüllt. Und wie prüfe ich das? Dafür gibt es keine mathematische Formel, aber eine Reihe von Kriterien. Zum Beispiel, ob bestimmte Arbeitstechniken des Journalismus eingehalten sind. Also eine präzise und sorgfältige Recherche, eine umfassende, von wirtschaftlichen und politischen Interessen unabhängige Berichterstattung, in der alle Beteiligten zu Wort kommen.

Die Furche: Was sind Charakteristika des Boulevardjournalismus?

Neverla: Boulevardjournalismus wählt Themen, die nicht primär aus der Politik, sondern aus dem Alltag kommen. Es ist ein stark emotionalisierter, stark personalisierter Journalismus, ein simplifizierender. Boulevard fährt Kampagnen. Die These vom Kulturverfall unterstütze ich nicht, es geht nur die Schere weiter auf: Es gibt einige wenige sehr gute Medien, und es gibt eine wachsende Zahl von Redaktionen, die immer boulevardesker werden.

Die Furche: Erhebliche Marketing- etats gehen an Boulevardmedien.

Neverla: Wir sprechen heute von Hybridformaten. Wo also ein bisschen Journalismus drinnen ist, aber im Grunde genommen sehr viel an Vermarktung, wo primär Anzeigeninteressen beachtet werden und dann so umgewandelt, dass sie Leser finden. Dort läuft auch die riskante Entgrenzung von Journalismus zu Public Relation.

Die Furche: Österreich debattiert den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der für Qualitätsjournalismus steht. Ist dieser an die Struktur öffentlich-rechtlich gebunden?

Neverla: Nicht unbedingt, wenngleich in der historischen Betrachtung der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine wichtige Funktion bei der Entwicklung von Qualitätsjournalismus hatte, weil er Standards und Praktiken entwickelte. In der deutschen Geschichte ist mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk nach 1945 tatsächlich Qualitätsjournalismus eingekehrt. Aber eben nicht nur damit. Denn Qualitätsjournalismus ist auch durch Spiegel, Die Zeit entwickelt worden, die im privaten Eigentum standen und stehen. Heute sind die öffentlich-rechtlichen Sender unter kommerziellen Druck geraten. Da stellt sich die Frage, ob sie auf Dauer gebührenfinanziert bleiben oder subventioniert werden wie sonstige Infrastruktur. Was für Krankenhäuser, Kindergärten und Schulen gilt, könnte für Qualitätsjournalismus gelten. Er ist unabdingbar für die moderne Gesellschaft. Er kann als Gemeingut finanziert werden und muss unabhängig bleiben. Das ist ein regulativer Balanceakt, der sich als notwendig erweisen könnte.

Die Furche: Medien und Journalismus als Infrastruktur?

Neverla: Ja, wenn wir unter Journalismus die Herstellung von Öffentlichkeit verstehen, dass also Kritik und Kontrolle stattfinden, dann ist das die Kernfunktion von Journalismus. Diese muss in einer Gesellschaft gewährleistet sein.

Die Furche: Sie schreiben, Journalismus habe Ergebnisse der Wissenschaft, etwa zum Klimawandel, in die Öffentlichkeit zu tragen. Zugleich meinen Sie, Wissenschaft und Journalismus würden doch nach ihren jeweils eigenen Spielregeln funktionieren.

Neverla: Man darf nicht erwarten, dass Journalismus Wissenschaft eins zu eins wiedergibt. Journalismus muss Wissenschaft übersetzen. Er muss hoch komplizierte wissenschaftliche Befunde in eine Form bringen, die für Menschen ohne Expertenwissen verständlich ist. Journalismus schafft dabei seine eigenen Formate.

Die Furche: In einer Abhandlung über die europäische Öffentlichkeit bezeichnen Sie Journalismus als ein ethisches Projekt.

Neverla: Weil in der deutschen Debatte Informationsjournalismus überzogen hochgehalten, Meinungsjournalismus ziemlich runtergeputzt wurde. Gerade in der Europa-Berichterstattung hätten die Journalisten öfter sagen können, das ist ein sinnvolles Projekt, das wir mittragen, bei aller Kritik. Wie im 19. Jahrhundert, als die Journalisten parteilich waren und so zur Demokratisierung beigetragen haben. Aber Meinungsjournalismus muss transparent, fair und offen sein auch für Kurskorrekturen.

Die Furche: Und was brauchen Journalisten?

Neverla: Eine Fach- und eine Vermittlungskompetenz. Sie müssen wissen und reflektieren, in welchem wirtschaftlichen und politischen Kontext sie handeln, unter welchen Bedingungen und Zwängen sie arbeiten. Sie müssen journalistische Arbeitstechniken, allen voran Recherche, und Darstellungsformen beherrschen. Da liegt in Österreich einiges im Argen. Deutschland hat einen doppelt so hohen Anteil akademisch ausgebildeter Journalisten. Wenn man studiert, kriegt man mit, wie mit Information umzugehen ist, was man damit machen kann. Dieses Reflexionsniveau erwirbt man eher in einer akademischen Ausbildung. Da ist in Österreich noch Entwicklungsbedarf.

1992

Aufgewachsen in Wien, studierte Irene Neverla nach journalistischer Ausbildung im Internationalen Pressezentrum in Wien, Salzburg und München Kommunikationswissenschaft, Soziologie und Psychologie. Seit 1992 ist sie Professorin für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Hamburg, leitet Master-Studiengänge und verfasste zahlreiche Studien.

Qualität

Seit den neunziger Jahren debattieren die Medienbranche und die Wissenschaft über Qualitäts- und Boulevardjournalismus. Die Kriterien sind inzwischen klar: Zu Qualität gehört Ausgewogenheit, Unabhängigkeit, Trennung von Bericht und Kommentar, keine Kampagnen, Kritik- und Kontrollfunktion, Herstellung von Öffentlichkeit, Erfüllung journalistischer Kompetenzen.

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