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"Die private Pflege finanziell fördern"

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Die erste große Analyse der heimischen Pflegevorsorge legte kürzlich der Wirtschaftswissenschaftler Christoph Badelt vor. Was waren die Ergebnisse?

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Die erste große Analyse der heimischen Pflegevorsorge legte kürzlich der Wirtschaftswissenschaftler Christoph Badelt vor. Was waren die Ergebnisse?

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DIE FURCHE: Sie haben soeben eine Studie über das Pflegegeld-System in Osterreich fertiggestellt und wurden zu Expertisen nach Deutschland eingeladen. Welche Lehren können andere Länder aus Österreichs Erfahrungen ziehen?

Christoph Badelt: Wenn Pflegearbeit in einer Gesellschaft auch in Zukunft weitgehend in der Familie erfolgen soll, halte ich die Geldleistung für das beste Instrument. Das ist der billigste Weg zu einer sicheren Versorgung pflegebedürftiger Menschen, weil die Geldleistung die Bereitschaft zur privaten Pflege am meisten aktiviert. Eine zweite Lehre ist, daß heute die Pflegearbeiten weibliche Arbeiten sind, daß ein erschreckend hoher Anteil der Frauen - in Osterreich um die 25 Prozent - dies zu Lasten ihrer eigenen Erwerbstätigkeit und sozialrechtlichen Absicherung tut. Das halte ich für eine sozialpolitische Langfrist-Bombe.

DIE FURCHE: Das Auslagern gewisser Sozialer Dienste bedeutet also mittelfristig keine Kostenersparnis?

Badelt: Ich halte es für sehr gefährlich zu sagen, daß sich der öffentliche Sektor hier generell etwas ersparen kann. Das ist aber im Einzelfall vor allem dann möglich, wenn sich die Non-Profit-Organisationen mit Spenden finanzieren oder viel mehr mit Ehrenamtlichen arbeiten als das der Staat könnte. Das ist dann ein Problem, wenn bestimmte Gruppen von Frauen ein Leben lang nur ehrenamtlich arbeiten. In der Praxis bedeutet Staätsentlastung dann: Man überträgt Frauen ohne Sozialrechte öffentliche Aufgaben.

DIEFURCHE: Ihr Lösungsvorschlag?

Badelt: Man soll die ehrenamtliche Arbeit fördern, aber nicht einseitig idealisieren. Vor allem sollten die ehrenamtliche und die bezahlte Arbeit gleichmäßig unter den Geschlechtern verteilt werden. Es kann nicht so sein, daß die Frauen die Gratis-Pflegear-beit leisten, während die Männer die Erwerbsarbeit leisten. Es sollen beide ein bißchen ”was von beidem machen.

DIE FURCHE: Wie soll das gehen?

Badelt: Kurzfristig würde ich bei jenen ehrenamtlichen Arbeiten, an denen auch gesellschaftspolitisches Interesse besteht - hier zähle ich Pflege und Kindererziehung dazu —, auf eine Absicherung mit Krankenversicherung und Pension hinarbeiten. Langfristig fördert man die ehrenamtliche Arbeit der Männer, indem man die Erwerbsarbeit der Frauen fördert. Je mehr Frauen Erwerbsarbeit leisten, desto weniger werden sie bereit sein, allein die ehrenamtliche Arbeit zu übernehmen. Viele Frauen leisten heute ehrenamtliche Tätigkeiten, weil sie sonst keine ljebensperspekti-ve haben. Das kann etwa eine 40jähri-ge Frau sein, die drei Kinder groß gezogen hat und nicht mehr in den Arbeitsprozeß reinkommt.

DIE FURCHE: Wie könnte die sozialrechtliche Absicherung der Pflegenden finanziert werden?

Badelt: Nachdem wir in einer Zeit leben, da eine einseitige Ausdehnung von Sozialleistungen völlig unrealistisch wäre, muß man sich fragen, ob man mit den Beträgen, die heute für das Pflegegeld zur Verfügung stehen, nicht auch Anreize für mehr Absicherung von Pflegepersonen schaffen sollte. Ich könnte mir konkret vorstellen, daß man ein höheres Pflegegeld für jene Menschen auszahlt, die damit auch eine Sozialversicherung der Pflegeperson finanzieren. Wo keine Versicherung bezahlt wird, gäbe es dann weniger Pflegegeld. Anreiz bedeutet aber nicht, das zu hundert Prozent zu bezahlen.

DIE FURCHE: Welchen Pflegebedarf erwarten Sie in Zukunft?

Badelt: Allein aus demographischen Gründen werden sich die Kosten für die Betreuung von alten Menschen in den nächsten 20 bis 30 Jahren mindestens verdoppeln, wenn nicht verdrei- oder vervierfachen. Sie können diesen Trend bremsen, indem Sie Gesundheitspolitik und aktivierende Altenarbeit betreiben, damit die Menschen in einem bestimmten Alter weniger betreuungsbedürftig sein werden. Oder dadurch, daß Sie Menschen gezielt unterstützen, damit sie möglichst lange in ihren Wohnungen statt in teuren Heimen leben können. Aber Sie können die Grundtendenz des Kostenanstiegs nicht verhindern.

DIE FURCHE: Können Altenpflege und andere Soziale Dienste neue, bezahlte und sozial abgesicherte Arbeit für, Beschäftigungslose schaffen?

Badelt: Ich halte das für eine der spannendsten Fragen der gegenwärtigen arbeitsmarktpolitischen Diskussion. Ich glaube, daß das Wachstumsbranchen sind, halte aber die von Gewerkschaftsseite vorgebrachten Zahlen - etwa '10.000 neue Arbeitsplätze pro Jahr - für maßlos übertrieben. Mehr als drei bis fünf Prozent Wachstum sind da nicht möglich - das ist eine gefühlsmäßige Schätzung. Denn wenn es mehr Leute gibt, die diese Dienste brauchen, heißt das noch lange nicht, daß sie dafür das Geld haben. Entweder muß der Staat diese kaufkräftige Nachfrage schaffen, damit das viel Beschäftigung schafft; das ist aber budgetpolitisch eher unwahrscheinlich. Oder wir brauchen private Versicherungs- oder Ansparsysteme, um das in einem verstärkten Ausmaß finanzieren zu können.

DIE FURCHE: Sind die Hoffnungen für den Arbeitsmarkt nicht auch deswegen ein Irrtum, weil die neuen Beschäftigungslosen nicht die nötigen Qualifikationen mitbringen?

Badelt: Diese Frage ist total berechtigt. Es ist völlig naiv zu sagen: „Ich habe arbeitslose Chemie- oder Textilarbeiter, die sollen jetzt pflegen gehen.” Das kann nur jemand sagen, der von Pflege nichts versteht. Für einen Großteil der Leistungen, die gefragt sind, braucht man eine Qualifikation, die man erst einmal erwerben muß.

DIE FURCHE: Wie läßt sich verhindern, daß die Einführung eines Pflegegeldes mit einer massiven Verteuerung der angebotenen Leistungen einhergeht?

Badelt: Das Problem, das Sie anschneiden, ist viel weniger eines der einzelnen Einrichtung als des Finanzausgleichs. In Wahrheit fließt hier indirekt Pflegegeld in die Iandesbud-gets. Vor dem Pflegegeld haben die Klienten Kostenbeiträge an Pflegeheime geleistet, die sie in den seltensten Fällen aus ihrer Pension finanzieren konnten. Die Differenz kam aus der Sozialhilfe der Länder. Jetzt, mit dem Pflegegeld, können die Leute mehr zahlen, und der Anteil der Sozialhilfe ist geringer. Diese Umverteilung ist nichts Dramatisches bei der Neu-Ein-führung eines Systems, das haben die Beteiligten schon vorher gewußt.

DIE FURCHE: Apropos Beteiligte: Inwieweit wird denn unser Pflegesystem den Bedürfnissen der Klienten gerecht?

Badelt: Wir haben in unserer jüngsten Studie für das Sozialministerium mit Interesse festgestellt, daß der Grad der Zufriedenheit sehr hoch ist. Ein enorm hoher Anteil der Pflegegeld-Bezieher kann elementare Alltagsfunktionen nicht ausführen - von „Kochen” bis „Sich-selbst-Anzie-hen”. Ich glaube daher, daß das Pflegegeld hier etwas im nachhinein finanziert, was an Leistungen gesellschaftlich schon dringend nötig war.

DIE FURCHE: Welchen Unterschied macht es, ob Pflegeleitungen kommerziell, vom Staat oder von Non-Pro-fit- Einrichtungen erbracht werden?

Badelt: Die signifikanten Unterschiede liegen in der Sozialstruktur der Klienten. Der öffentliche Sektor hat die Dienste für Menschen mit geringerem Einkommen und niedrigerer Sozialschicht angeboten als der Non-Profit-Sektor, auch als die kirchlichen Einrichtungen. Die kirchliche Sozialarbeit betreibt eine Differenzierung. In der Pflege richtet sie sich eher an Mittelklasse-Publikum. In der Basis-Sozialarbeit, die in die Lücken geht, die der Staat läßt, tut sie etwas für die Ärmsten der Armen, also etwa in der Ausländer- oder Randgruppenpolitik, aber nicht bei den Alten.

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