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Die reichen Länder sehen erneut ihren Wohlstand bedroht

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IH der internationalen Handelspolitik vollzieht sich ein unübersehbarer Wandel.

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IH der internationalen Handelspolitik vollzieht sich ein unübersehbarer Wandel.

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Die künftige Entwicklung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen ist auch nach der Unterzeichnung der GATT-Uru-guay-Schlußakte in Marokko ungewiß. Zwar werden die 124 Teilnehmerstaaten ihre Warenzölle um durchschnittlich 40 Prozent senken sowie den Handel mit Dienstleistungen und geistigem Eigentum libera-isieren. Durch diese Maßnahmen soll der Welthandel nach Berechnungen des GATT-Sekretariats in den nächsten zehn Jahren um unvorstellbare 9.000 Miüiarden Schilling wachsen. Der erfolgreiche Abschluß siebenjähriger Verhandlungen kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich in der Handelspolitik ein Wandel vollzieht. Er wird auch in der neugeschaffenen Welthandelsorganisation (WTO) zu einer aggressiveren Haltung der USA und der EU gegenüber Japan, den ostasiatischen Schwellenländern, einem großen Teil der Dritten Welt und den postkommunistischen Reformländern fiihren.

ÄNDERUNG DER GAH-REGELN

Diese Politik wird zunächst im Versuch sichtbar, die bisherigen GATT-Regeln zu ändern. Diese sehen bekanntlich vor, daß sich die Verhandlungspartner gleichwertige und ausgeglichene Zugeständnisse machen, ohne dabei die Höhe des Schutzniveaus eines Landes in Frage zu stellen. Nach dem Prinzip der Meistbegünstigung werden die Tarifermäßigungen allen Drittstaaten automatisch gewährt. Dieses Verfahren soll nach dem Willen der USA und auch einflußreicher europäischer Staaten durch „Fair Trade' ersetzt werden. „Fairer Handel" bedeutet in diesem Zusammenhang gleiche Marktzutrittsbedingungen. Nach dieser Lesart hat beispielsweise ein Handelspartner der USA die gleichen Handelsbedingungen einzuräumen, die die USA diesem Land gewähren.

Die Europäische Union geht noch weiter: Gegenmaßnahmen sollen nicht nur bei „unfairen Handelspraktiken" möglich sein, sondern auch dann, wenn den Gemeinschaftserzeugnissen durch den Importhandel „gleichartiger oder unmittelbar konkurrierender Waren ernsthafter Schaden entsteht oder zu entstehen droht". Kriterien der Schadensbemessung können etwa Kapazitätsauslastung, Absatz, Gewinn oder Kapitalrendite sein.

Zugleich wird gegen den „völlig unregulierten Welthandel" mit dem Argument „der ungleich langen Spieße" im sozialen und ökologischen Bereich zu Felde gezogen. Niedrige Löhne und Sozialleistun-Ten, geringe Umweltstandards und künstliche Wechselkurse würden zu inakzeptablen Wettbewerbsverzerrungen führen, die den Lebensstandard in den entwickelten Industriestaaten bedrohen und Arbeitslosigkeit vergrößern.

So fordern die USA, von Frankreich vorsichtig unterstützt, daß die neue Welthandelsorganisation Mindeststandards für Arbeitsbedingungen und Löhne überwachen solle. Die Entwicklungsländer konnten zwar diesen Vorstoß in Marrakesch abwehren, doch wird sich ein

WTO-Ausschuß mit der „Verbindung zwischen Handel und Arbeitsbedingungen" befassen. Auch der EU-Kommissar für Außenhandel, Sir Leon Brittan, hat bei der Vertragsunterzeichnung deutlich gemacht, daß sich die künftige Welthandelsorganisation auch für die Respektierung sozialer Rechte und die Beseitigung von Sklaven-und Kinderarbeit einzusetzen habe.

Gegen das neue Welthandelsabkommen wenden sich auch die Ökologen auf das schärfste. Sie argum-mentieren, daß ein gerechter Wettbewerb zwischen Ländern mit unterschiedlichen Umweltstandars unmöglich sei. Daher wäre es unrichtig, notwendige Schutzmaßnahmen als „Protektionismus" oder „Öko-Imperalismus" zu bezeichnen. Es werde ja niemand gezwungen, bestimmte Wertvorstellungen zu übernehmen; jedes Land könne im Produktionsbereich weiterhin so verfahren, wie es wolle. Es müssen jedoch auf fremden Märkten die Kosten der dort gültigen Umweltnormen bezahlt werden. Dies sei der Preis für den Zugang zu diesen Märkten.

SOZIAL- UND ÖKODUMPING

Die Befürworter eines freien Welthandels befürchten, daß die sozialen und ökologischen Unterschiede zum Vorwand einer protektionistischen Politik der Industrienationen genommen werden könnte. So warnt der frühere GATT-Generaldirektor, der Schweizer Arthur Dunkel, vor dem Versuch, wirtschaftliche Interessen mit Argumenten des Umweltschutzes oder des Schutzes der sozialen Rechte zu vertreten. Die von ver-. schiedenen Staaten geforderte Sozialklausel dürfe zum Beispiel nicht zur Verhinderung neuer Arbeitsplätze in der Dritten Welt mißbraucht werden. Die Industriestaaten sollten erkennen, daß nur ein wirtschaftliches Wachstum in den armen Ländern zur Schaffung neuer Exportmärkte für ihre Produkte führen werde. Eine hohe Arbeitslosigkeit in den Entwicklungsländern würde überdies zu einer Zunahme der Flüchtlingsströme in den Westen führen. Auch müsse verhindert werden, daß Liberalisierungsniaßnah-meri durch die marktbeherrschende Stellung großer transnationaler Unternehmen umfangen werden, bereits jetzt werde der High-Tech-Sektor praktisch von nur drei Firmen beherrscht. Eine ähnliche Situation könne auch auf dem Au-tomarkt entstehen. Sie öffne kartellartigen Absprachen Tür und Haus.

Nun sind aber die Vereinbarungen von Marrakesch auch in den Entwicklungsländern umstritten: In Indien ist eine starke Opposition gegen die Marktöffnung für westhche Waren entstanden. Der Generalsekretär der Arabischen Liga wiederum plädierte für eine zehnjährige Ausnahmeregelung, um den arabischen Ländern die Möglichkeit zu geben, ihre landwirtschaftlichen und industriellen Produkte auf internationales Niveau zu heben.

Die künftige Welthandelsorganisation, die nach Möglichkeit schon Anfang 1995 ihre Tätigkeit aufnehmen soll, wird somit von allem Anfang an schwierige Aufgaben zu lösen haben. Sie wird dabei Instanz zur Streitschlichtung, Verhandlungsforum und Verbindungsstelle zum Internationalen Währungsfonds und zur Weltbank sein. Sie wird die Einhaltung der Handelsregeln überwachen und soll dabei auch zu Sanktionen greifen können.

Zwar werden die drei großen Wirtschaftsblöcke Nordamerika, EU und Japan auch in der neugeschaffenen Organisation alle wichtigen Entscheidungen maßgebend beeinflussen. Doch sollte niemand überrascht sein, wenn dieses Gremium zunehmend auch von erfolgreichen Schwellenländern in Ostasien und Lateinamerika, von der arabischen Welt und von den postsozialistischen Reformländern benützt wird, um Anliegen stärker als bisher zu vertreten.

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