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Die Renten erdrücken uns nicht

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Die Zahl der Rentner in der Unfall- und in der Pensionsversicherung bclief sich Ende 1961 auf 1,071.403, bei einem Anstieg von 4,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr; die Zahl der Unfallrentner allein betrug 106.348 (^m 2,8 Prozent mehr). Setzt man das Jahr 1948 mit 100 gleich, hält der Stand der Rentner derzeit bei 257.

Der Anstieg der Rentner, jetzt Pensionisten, ist je soziale Großgruppe im Vergleich zum Vorjahr uneinheitlich und beträgt bei den Arbeitern 2,8 Prozent, bei den Angestellten 2,7 Prozent, bei den Selbständigen dagegen 13 Prozent. Bei der Knappschaftsversicherung ist als Folge einer nunmehr bereits bei den Rentnern merkbar gewordenen Schrumpfung des Berufsstandes sogar ein Rückgang zu verzeichnen.

In der außerordentlich starken Erhöhung der Zahl der Selbständigen-pensionen ist die fortschreitende Aktivierung der Versicherungseinrichtungen der Gewerbetreibenden und Bauern angedeutet (Bauern + 11 Prozent, Gewerbetreibende + 16 Prozent).

Von den Renten sind zirka 64 Prozent direkte (Eigen-) Renten, die sich um 4,6 Prozent erhöhten, während die Hinterbliebenenrenten um 3,5 Prozent anstiegen.

Den Rentnern aller Kategorien stehen 2,224.331 Beschäftigte gegenüber. Auf einen Rentner kommen daher 2,08 Beschäftigte. Dieses Verhältnis wird demnächst auf unter zwei sinken, da kaum ein nennenswerter Zuwachs an Beschäftigten erwartet werden kann.

Sooft auf ein absolutes wie ein relatives Anwachsen der Zahl der Rentner verwiesen wird, ist dieser Hinweis mit einer zum Teil schon konventionellen Prophetie über den zu erwartenden Zusammenbruch der Rentenversicherung verbunden. Ebenso wird bei einem Anheben der Rentenzahlungen stets oder so gut wie stets deren kaufkraftmäßige Deckung, die Möglichkeit der Finanzierung aus dem Sozialprodukt, bezweifelt. Nun kann man aber nicht gut die Absicht bekunden, eine neue soziale Ordnung zu schaffen und anderseits jeden Versuch einer Realisierung eben dieser mit vielen Worten erstrebten Ordnung unbedacht mißbilligen und vorweg als unvollziehbar hinstellen. In einer gesellschaftlichen Neuordnung, deren Bildung auch Ziel christlicher Sozial-reformer ist, müssen auch die „Alten“ ihren sozial und wirtschaftlich gesicherten Standort haben, selbst dann, wenn die Aktiven den Bestand einer solchen Neuordnung unter spürbaren Opfern über Abgaben- und Beitragserhöhung mitzufinanzieren haben.

Die Tatsache, daß die Zahl der nicht mehr Erwerbstätigen — Rentner und Nichtrentner — relativ wächst, ist in einem geringen Umfang ein Index der Verlängerung der Lebenserwartung (der Zugang überdeckt den natürlichen Abgang bei den Rentnern). Wenn dagegen die Zahl der Rentner verhältnismäßig mehr steigt, als der Altersstruktur angemessen, hängt dies mit der Herausnahme der alten Menschen aus dem Bereich der Fürsorge zusammen, deren finanzielle Ansprüche an das Sozialprodukt geringer werden. Der relative Anstieg des Einkommens der Rentner und das sukzessive Vorziehen der Anspruchsberechtigung bis auf das 55. bzw. 60. Lebensjahr ist dagegen die Folge einer allmählichen und in Hinkunft stärker spürbar werdenden Gleichsetzung der privaten Dienstnehmer mit den pragmatisierten Bediensteten der Gebietskörperschaften, die schon bisher unbestritten die Möglichkeit einer „Frühpensionierung“ vor Erreichung des Höchstalters hatten.

Die Dynamisierung der Renten stellt ebenfalls eine bisher den Pensionisten der Gebietskörperschaften bereits gewährte Sicherung dagegen dar, daß der Pensionist bei Aufgabe seiner Erwerbstätigkeit in seinen Konsumchancen allzusehr verkürzt wird.

Die dynamische Angleichung der Renten erfolgt ohnedies nur auf Basis der geleisteten Krankenversicherungsbeiträge. Die Pensionisten haben daher an den heute sehr häufig ' verdeckten und daher nicht krankenver-sicherungspflichtigen Bezügen der Aktiven keinen Anteil, ebensowenig wie am Anstieg des Stundenlohnes, der eine Folge der Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich ist.

Das beabsichtigte Nachziehen der Renten in Entsprechung zum Durchschnittslohn der Beschäftigten hat rechnerisch den Charakter eines Multiplikators, der theoretisch auch negativ sein könnte, falls einmal die Durchschnittslöhne absinken. Da in der gegenwärtigen Situation auf dem Arbeitsmarkt die Löhne nur nach einer Richtung — nach oben — beweglich sind, ist eine solche Annahme ohne Bedeutung. Der Multiplikator enthält einerseits einen „Teuerungszuschlag“ (werden doch die Löhne, wenn auch nicht mathematisch genau, dem Lebenshaltungskostenindex nachgezogen) und anderseits einen Produktivitätszuschlag. Durch die Gewährung eines Teuerungszuschlages wird die Kaufkraft der Rente stabilisiert, durch die Einräumung eines Produktivitätszuschlages nimmt der Rentner einigermaßen Anteil am allgemeinen Anstieg der Konsumchancen: eine relative Verelendung der Rentner wird vermieden. Soweit der Anstieg der Renten jedoch über den allgemeinen Lohnanstieg hinausgeht, vollzieht sich in einem Nachholverfahren eine gesellschaftliche Wiedergutmachung an den Rentnern, denen man bisher keine Teilhabe am Anstieg des Sozialprodukts einräumen wollte.

Wie immer nun die Dynamisierung der Renten rechnerisch festgelegt wird, sie vermag zwar die in der Natur unserer Gesellschaft gelegene Abwertung der Alten nicht völlig aufzuheben, aber doch zu bremsen: Der „liebe“ Großvater wird im Kreise seiner „Lieben“ durch den Bezug einer höheren Rente eben doch einigermaßen „valorisiert“, und sei es nur deswegen, weil er nun würdig ist, die Rate für das Auto mit abzahlen zu helfen. Jedenfalls hängt die Verweisung der Alten aus dem Leben der Gesellschaft zu einem, guten Teil mit dem radikalen Absinken ihrer Ver-sorgungschaneen zusammen, das .jeweils eine Folge der Einstellung der Erwerbstätigkeit ist, bis zum Zwang, die Wohnung aufzugeben, in der die Kinder aufgewachsen sind und die dem Altgewordenen eine kleine Welt räumlich umgrenzt hat. Wer von den Anhängern der „Endlösung Altersheim“ kann ermessen, was es bedeutet, wenn ein alter Mensch gleichsam ausgesetzt wird und in die „Versorgung“ gehen muß, über deren Komfort sich manche offenkundig Illusionen machen.

Wenn der jeweilige Lohn der Aktiven die Produktivität und die Produktivitätssteigerung anzeigt, müssen die ökonomischen Argumente, die gegen eine Dynamisierung der Renten vorgebracht werden, auf die Abwehr unüberlegter und wirtschaftlich unvollziehbarer . Mehrleistungen beschränkt werden. Eine Erhöhung der Renten, die nur mit Kaufkraftreduktion und mit ungebührlich hohen Beiträgen möglich ist, muß als sinnlos und sogar als asozial bezeichnet Werden. Diesen Sachverhalt bestreiten höchstens die Soziallizitierer. Die Sozialpolitik hat in allen Regionen, in denen sie vollzogen wird, dann die Grenze ihrer Expansion erreicht, wenn sie dem einen allzuviel nimmt und dem anderen (dem Sozialparasiten) allzuviel gibt, ebenso dann, wenn sie nur scheinbar gibt, das heißt, dem einen nimmt, dem anderen aber faktisch — als Folge erzwungener Preissteigerungen — so gut wie nichts mehr dazugibt.

Alle düsteren und nach Lage der Dinge nicht selten durchaus gerechtfertigten Voraussagen bei einer beabsichtigten Expansion der sozialen Leistungen haben bisher zu keiner unvertretbar hohen Beanspruchung des Sozialproduktes geführt. Es ist jedenfalls eine Art von Zwiedenken, wenn man einerseits stolz, wenn nicht sogar eitel auf das Wachsen des Sozialproduktes hinweist und auf der anderen Seite den Alten die Teilnahme am Wachstum dieses Sozialproduktes verweigern will. Man kann nicht mit gutem Gewissen festhalten, daß dank technischer Erfindungen in den letzten 44 Jahren die industrielle Produktion in der Welt um 400 Prozent, die Produktivität der chemischen Industrie sogar um 1600 Prozent gestiegen ist, wenn man die Mehrung der Produk-tionsergebnisse lediglich den Produzenten, also den Erwerbstätigen, in Form von Lohn- und Gewinnerhöhungen vorbehalten wissen will.

Bis jetzt hat sich jedoch im allgemeinen die Expansion der Sozialpolitik in Anpassung an das Wachsen des Sozialproduktes vollzogen. In Prozenten vom Volkseinkommen stiegen die Einkünfte der Sozialversicherung von 1952 auf 1960 lediglich von 9,1 auf 11,48 (von 1958 bis 1960 blieb der relative Anteil am Volkseinkommen so gut wie gleich hoch). In der kleinen Verschiebung ist zahlenmäßig jenes sicher nicht als hoch zu bezeichnende relative Opfer ausgewiesen, das die Gesellschaft seit 1952 zugunsten der Alten auf sich genommen hat.

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