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Digital In Arbeit

Die Schere geht immer weiter auf

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Österreich droht durch Selbstgefälligkeit und geistige Unbe-weglichkeit in einen sozial rückständigen Status zurückzufallen.

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Österreich droht durch Selbstgefälligkeit und geistige Unbe-weglichkeit in einen sozial rückständigen Status zurückzufallen.

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Die gewaltigen und andauernden Veränderungen im Wirtschafts- und Arbeitsleben, die wir derzeit erleben, müssen ihren Niederschlag im Sozialnetz finden. Diese eigentlich selbstverständliche Konsequenz wird — zumindest hier -kaum angesprochen und eigentlich verdrängt. Zu sehr herrscht ein Denken in Besitzständen. Notwendige Anpassungen lösen Kämpfe gleichsam um jede Handbreit Boden aus.

Dies zeigte sich deutlich anläßlich notwendiger Lockerungen starrer Arbeitszeitregelungen. Das geltende Arbeitsrecht, das so sehr verteidigt wird, entwickelte sich allerdings unter ganz anderen Bedingungen - in Zeiten langdauernden, kräftigen Wachstums, der Vollbeschäftigung und eines sehr starken Einflusses des Staates auf das wirtschaftliche Geschehen.

Es entspricht heute nicht mehr aktuellen Zielsetzungen. Die Schere zwischen dem, was niedergeschrieben ist und dem, was in der Praxis geschieht, geht nun immer mehr auf. Betriebliche Vereinbarungen entschlüpfen den geltenden Normen, Dienstverträgen wird zugunsten „freier” Arbeitsverhältnisse oder Schwarzarbeit ausgewichen.

Nebenkosten

Ein wesentlicher Teil der Arbeitslosigkeit ist einfach dadurch begründet, daß Arbeitgeber die Belastungen und die „Nebenkosten” durchnormierter Dienstverhältnisse nur mehr auf sich nehmen, wenn es unvermeidlich ist. Die nicht mehr vorhandene Deckung zwischen Recht und Realität hat also sehr nachteilige Folgen. Sie sind mindestens ebenso groß, wie die einer längst fälligen Anpassung, die da und dort „Sozialabbau” mit sich bringt. Auf der anderen Seite würde aber eine Totalreform des Arbeitsrechtes gewaltige Chancen eröffnen, die bisher nicht genutzt wurden.

Schon vor Jahrzehnten wurden Anläufe unternommen, das gesamte Arbeitsrecht zu „kodifizieren”, also in die klare und einheitliche Form eines Arbeitsgesetzbuches zu bringen. Das Projekt scheiterte vor allem am Widerstand der Wirtschaft. Sie wehrte sich gegen die Kosten, die dadurch entstanden wären, daß man die bisherigen Ansprüche der Angestellten auf alle Dienstnehmer übertragen hätte. In der Folge kam es zu einer schrittweisen Ängleichung, also eben zu jener - wollte man es

überspitzt nennen - „Verbeamtung” der Dienstverhältnisse, die heute als mangelnde Flexibilität und fehlende Übereinstimmung mit den Erfordernissen der neuen Arbeitswelt empfunden wird. Nun wäre es geboten, endlich reinen Tisch zu machen. Ein übersichtliches, klug konzipiertes Gesetz sollte einheitliche Mindeststandards festlegen und alles, was darüber hinausgeht, in vernünftig geordneter Form den Kollektivverträgen, den Betriebsvereinbarungen und den Einzelabmachungen überlassen. Von der Trennung in Arbeiter und Angestellte wird man Abschied nehmen müssen. Sie ist sachlich überhaupt nicht mehr begründbar, unlogisch und ungerecht.

Hingegen wird es notwendig sein, entsprechend den unterschiedlichen Bedürfnissen verschiedene Typen von Arbeitsverhältnissen vorzusehen. Der heutige Dienstvertrag mit langen Kündigungsfristen, großzügiger Lohnfortzahlung bei Krankheit und hohen Urlaubsansprüchen wird auf jene Arbeitsverhältnisse zu beschränken sein, die stabil und auf längere Frist angelegt sind. Daneben wird man losere Dienstverhältnisse typisieren müssen, die alle elementaren Standards des Arbeitnehmerschutzes aufweisen, aber von beiden Seiten relativ kurzfristig und ohne

Entstehen von hohen Einmalzahlungen aufgelöst werden können. Als drittes Modell wird der freie Beschäftigungsvertrag vorzusehen sein, der dem Werkvertrag des Selbständigen ähnlich ist. Für alle Kategorien von Arbeitsverhältnissen wird -und das ist besonders wichtig - die Sozialversicherungspflicht vorzusehen sein. Dies allerdings modifiziert und verbunden mit einer allgemeinen (steuerlichen) Veranlagungspflicht der Werktätigen.

Beschäftigungsanreize

Es wird aber noch eine Grundfrage gelöst werden müssen. Welche Bereiche der Vorsorge sollen dem Arbeitgeber übertragen werden und welche an öffentliche beziehungsweise Gemeinschaftseinrichtungen? Heute spricht sehr viel dafür, soziale ' Ansprüche vom Betrieb weg zu verlagern und damit entscheidende Beschäftigungsanreize zu schaffen. So wird es angebracht sein, die bisherige Abfertigung auf jene Fälle zu beschränken, wo ein langdauernder Dienstvertrag vom Betrieb gekündigt wird; alle anderen derartigen Ansprüche sollten hingegen in „mit-nehmbare” Vermögensbildung und Einzahlungen in Pensionskassen umgewandelt werden. Damit würde auch ein höchst notwendiger Beitrag für die Mobilität der Arbeitskräfte geleistet - auch in deren eigenem Interesse! Einen Qualitätssprung für die menschliche Arbeit müßte auch die Etablierung von Gewinnbeteiligungssystemen im Arbeitsrecht herbeiführen. Dafür gibt es zahlreiche und auch praktisch bewährte Modelle, die aber aus ideologischem und Trägheitsdenken bisher verhindert wurden.

Allein diese knapp gefaßte Aufzählung zeigt die gewaltigen Aufgaben, aber auch Chancen, die heute vor dem Sozialgesetzgeber liegen. Bisher sieht es leider so aus, als ob man sie weder sehen noch wahrhaben wollte. Es wird nur in Einzelbereichen „herumgedoktort” und das noch dazu recht stümperhaft (Werkvertragsregelung!). Osterreich, das sich lange Zeit rühmte, ein vorbildlicher Sozialstaat zu sein, droht mit Selbstgefälligkeit, geistiger Unbe-weglichkeit und mangelndem Mut in einen sozial rückständigen Status zurückzufallen. Wir könnten bald zwar wunderschöne Bechte auf bedrucktem Papier vorfinden, die aber immer mehr illusorisch werden, weil es an der wirtschaftlichen Basis und vor allem an ausreichender Beschäftigung mangelt. In Zeiten eines Überangebotes und der Möglichkeit, „billige” - das heißt oft: um ihre Rechte geprellte - Arbeitskräfte zu finden, hat man nur zwei Optionen: Entweder die staatlichen Eingriffe in Wirtschaft und Gesellschaft wieder zu verstärken oder das Sozialrecht an die neue Situation von Wirtschaft und Gesellschaft anzupassen. Man wiru also umdenken müssen, oder man wird scheitern.

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