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Die verfehlte Therapie

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Das Defizit der Krankenkassen ist seit zumindest drei Jahren Gegenstand zahlloser Enqueten, Sitzungen und Zeitungsartikel gewesen. Aber erst seit einigen Monaten empfehlen Politiker, Bürokraten und pflichtgemäß auch Journalisten der Linken den Oesterreichern die Krankenfürsorge durch den Staat.

Das Konzept ist nicht neu, sondern schon seit langem allen kollektivistischen Ideologien geläufig. Nur hörte man in Oesterreich längere Zeit nichts mehr davon. Jetzt aber sollen in Zukunft auch Geburt, Krankheit und Tod zentral verwaltet und verrechnet werden. Die Risikogemeinschaften, zu denen sich die Menschen bisher zusammengeschlossen hatten, werden in ihren Funktionen weitgehend eingeschränkt. An ihre Stelle tritt eine verordnete Obrigkeit, die keine finanziellen Beschwerden mehr kennen wird, da sie — dies wird natürlich nicht ausgesprochen — nach Bedarf Steuererhöhungen dekretieren oder die Notenpresse betätigen kann.

Verheißungen dieser Art finden sich unter anderem auch in einem Aufsatz der Zeitschrift des Oesterreichischen Arbeiterkammertages und des Oesterreichischen Gewerkschaftsbundes „Arbeit und Wirtschaft".

Bis vor rund einem Jahrzehnt hatten es die Verfechter der staatlich garantierten Gesundheit noch weitaus schwerer als heute. Damals gab es nämlich in Westeuropa noch kein großes demokratisch regiertes Land mit staatlichem Gesundheitsdienst. Der Hinweis auf die Sowjetunion, in der schon seit einigen Jahrzehnten eine behördliche Gesundheitsverwaltung be- stand, besaß begreiflicherweise keine überragende Werbewirkung. 1948 trat die große Wende ein, als Großbritannien seinen „National Health Service“ einführte. Seither liefert das Funktionieren des englischen Systems den Verfechtern des Gesundheitsdienstes eines ihrer beliebtesten Argumente. Das gilt natürlich auch für Oesterreich, obwohl unsere Ausgangsbasis eine andere wäre als die Großbritanniens vor zehn Jahren, ganz abgesehen von der unterschiedlichen Mentalität der beiden Völker.

Die finanzielle Gebarung des englischen Gesundheitsdienstes in den ersten Jahren erlaubt gewisse Rückschlüsse auf ein österreichisches Experiment. Anläßlich der ersten Vorlage eines Gesetzes zur Schaffung des Allgemeinen Gesundheitsdienstes 1946 wurden die gesamten Kosten auf etwa 7,7 Milliarden österreichische Schilling veranschlagt. Alle Zahlenangaben beziehen sich nur auf England und Wales ohne Schottland. Eine neuerliche Schätzung für die neunmonatige Periode von Juli 1948 bis März 1949 ergab dagegen bereits einen Aufwand von 12,4 Milliarden österreichische Schilling. In Wirklichkeit betrugen die Kosten dann 23 Milliarden österreichische Schilling, also um 10 Milliarden mehr als veranschlagt. In den folgenden zwölf Monaten 194950 stiegen die Gesamtausgaben weiter auf 26 Milliarden an. In der Rechnungsperiode 195354 schließlich ergab der Abschluß einen Aufwand von rund 28,5 Milliarden österreichische Schilling.

Diese Zahlen geben ein realistisches Bild der Entwicklung, da sie a’uf Grundlage der Preise von 194849 errechnet wurden. Zu laufenden Preisen betrugen für England und Wales die Ausgaben des Gesundheitsdienstes im Jahre 195354 fast 32 Milliarden österreichische Schilling, im laufenden Budget sind 40 Milliarden vorgesehen! Die Bevölkerungszunahme in diesem Zeitraum war relativ gering und spielte bei der Vergrößerung des Budgets kaum eine Rolle. Das englische Beispiel zeigt, auf wie tönernen Füßen alle jene Mutmaßungen stehen, die die Kosten eines österreichischen Gesundheitsdienstes mit höchstens drei Milliarden Schilling jährlich beziffern. Ein fünfzigprozentiger Zuschlag auf diesen Betrag ist zumindest ge-boten, wahrscheinlich würde dies aber nicht ausreichen.

Im Mai 1951 wurde in Großbritannien erstmals eine geringe Kostenbeteiligung der Patienten — bei Zahnbehandlungen und Brillenverschreibungen — eingeführt. 1952 kamen Medikamentengebühren dazu. Derartige Maßnahmen finden erfahrungsgemäß bei der Bevölkerung wenig Verständnis und werden daher zu einem billigen Werkzeug der politischen Demagogie. Die Verpolitisierung des Gesundheitswesens mit allen ihren unangenehmen Begleiterscheinungen ist so eine äußerst schädliche, aber nicht zu umgehende Folge der Verstaatlichung dieses für jedes menschliche Leben wichtigen Sektors.

In Oesterreich nahm man nun die prekäre Finanzsituation verschiedener Krankenkassen zum willkommenen Anlaß, um die Bevölkerung mit der Idee des Gesundheitsdienstes vertraut zu machen. Es wird dabei vor allem auf die Situation der größten Krankenversicherungsträger, nämlich der Gebietskrankenkassen, hingewiesen.

Nun haben diese Kassen tatsächlich in letzter Zeit Aufgaben zugewiesen bekommen, die trotz steigender Beiträge nicht mehr aus den eigenen Einnahmen gedeckt werden können. Doch ist die Flucht in den größeren Etat des Staates ein Irrweg. Es wäre dagegen wünschenswert, bestimmte Leistungen den Kassen aus dem Steueraufkommen zu vergüten. Etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, das Wochengeld für werdende und stillende Mütter, die ja unter normalen Umständen nicht im eigentlichen Sinn krank sind. Die Vergütung bestimmter Ausgaben soll, zum Unterschied von pauschalen Zuschüssen, den Anreiz für eine sparsame Gebarung verstärken.

Bei der Erörterung der finanziellen Grundlagen des Gesundheitsdienstes ergeben sich in dem bereits zitierten Artikel von „Arbeit und Wirtschaft“ einige Ungereimtheiten. Es wird vorerst darin die freudige Botschaft von der Ermäßigung des Krankenkassenbeitrages um 60 Prozent verkündet — weil ja von nun an I Vater Staat alles zahlt. Aber betrüblicherweise ' wird die Herabsetzung auf der einen Seite durch ’ eine Erhöhung auf der anderen, in Form eines 1 Gesundheitszuschlages auf die Lohnsteuer, mehr ! als ausgeglichen werden. Diese Gesundheits- ' steuer soll eine Milliarde einbringen. Die zweite ! von den veranschlagten drei Milliarden sollen 1 die Unternehmer aufbringen. Doch diese wälzen nach Möglichkeit derartige Mehrbelastungen auf den Preis für ihre Produkte über — dies dürfte doch auch die Auffassung der Linken sein? Folglich ist der angestrebte Umverteilungseffekt minimal, es kommt dabei höchstens die Wirkung einer indirekten Steuer zustande. Die dritte Milliarde schließlich soll aus „allgemeinen Steuermitteln" zugeteilt werden. Woher kommen nun diese? Doch nicht etwa auch zu einem guten Teil von jenen Leuten, die heute durch ihre direkte Beitragsleistung noch ein gewisses persönliches Verhältnis zu ihrer Krankenkasse besitzen?

Derartige Bedeckungsvorschläge, wie die bisher gebotenen, sind nur ein wenig verantwortungsvolles Jonglieren mit Zahlen, um dadurch einfache Menschen zu verwirren und sie über den wahren Sachverhalt zu täuschen. Es wird sogar ernstlich die Meinung vertreten, unsere Abgeordneten seien unterbeschäftigt, und man müsse daher dem Parlament auch die letzte Zuständigkeit über das Gesundheitswesen zuweisen. Es ist erstaunlich, daß die Gewerkschaften diese Manöver stillschweigend dulden. Zur gleichen Zeit, da sie echte Wirtschaftsdemokratie fordern, sehen sie dem Versuch, die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen abzubauen, stillschweigend zu. Müßte hier über der kurzfristigen Perspektive, die die Machterweiterung für die eine Partei im Auge hat, nicht das Grundsätzliche, die Bewahrung und der Ausbau volksnaher Einrichtungen, höhergestellt werden?

Der praktische Arzt wird im Rahmen des Gesundheitsdienstes zum Angestellten, dem allerdings noch eine eigene Ordination zugestanden wird. Einzelordinationen von Fachärzten werden dagegen abgeschafft, denn „sie sind weder rentabel noch notwendig" Zitat aus „Arbeit und Wirtschaft“. Die Fachärzte werden nur in „Kollektiven“ arbeiten, wie auch weiter im Osten. Wahrscheinlich werden nach einiger Zeit auch die Ordinationen der praktischen Aerzte als kostspielige individualistische Verirrung entlarvt und auf gehoben werden. Natürlich verfallen auch die Spitäler der Zentralisierung. Man könnte dagegen wenig einwenden, wenn es sich um die öffentlichen Krankenhäuser handelte. Aber da es „nicht den gegebenen Anforderungen entspricht“, wenn Spitäler von Religionsgemeinschaften geführt werden, sollen auch' diese gleichgeschaltet werden. Wir fragen: Welches sind die „gegebenen Anforderungen“, und wer legt sie fest?

Wir wissen, wie viele Schwierigkeiten bereits heute der religiösen Betreuung der Kranken in vielen öffentlichen Spitälern entgegenstehen! Es ist legitim, wenn jemandem das Verständnis für derartige mittelalterliche Gepflogenheiten abgeht. Es entspricht jedoch unserer Auffassung von Freiheit, die Menschen in jener Umgebung gesunden, leiden und sterben zu lassen, die sie selbst vorziehen, und nicht, die ihnen von Amts wegen vorgeschrieben wird. Auch das ist ein Aspekt des Gesundheitsdienstes!

Aus einer Fülle von Fragen konnten hier nur wenige gestreift werden. Es geht uns um das Bekenntnis zu einer unverfälschten Demokratie, um ihre Bewahrung und ihren weiteren Ausbau dort, wo sie schon in Ansätzen vorhanden ist. In der Verstaatlichung des Gesundheitswesens, die letztlich auch im Widerspruch zum Subsidiaritätsprinzip der christlichen Soziallehre steht, sehen wir kein geeignetes Mittel, um den heutigen Zustand in irgendeiner Weise zu verbessern. Dagegen wäre es ohne Zweifel notwendig, alle jene Personen in den Schutz det Krankenversicherung einzubeziehen, für die noch immer jede schwerere Erkrankung eine wirtschaftliche Katastrophe heraufbeschwört.

Zur Zeit ist die finanzielle Stabilisierung der Krankenversicherungsträger das dringendste Problem auf diesem Gebiet. Hier wird sich wahrscheinlich ein einmaliger Zuschuß des Bundes als Beitrag zur Abdeckung des bisher aufgelaufenen Defizits als unumgänglich erweisen Eine dauerhafte Gesundung ohne Beitragserhöhung wird, wie schon gezeigt, am ehester durch die staatliche Refundierung bestimmte Ausgaben, die den Rahmen der eigentlicher Krankenfürsorge überschreiten, zu bewerkstelli gen sein. Die Krankenversicherungsträger soller auch in Zukunft nicht durch pauschale Zu Wendungen der Verpflichtung enthoben werden sparsam zu wirtschaften! Aber auch den Ver sicherten obliegt die Pflicht, in ihren Kassel nicht ein Ausbeutungsöbjekt, sondern eim.

Der staatliche Gesundheitsdienst hat ar Positivem nicht viel mehr zu bieten als das Ver schwinden des Krankenscheins, ein Vergnügen das den Oesterreichern teuer genug zu stehei käme. Fast muß man fürchten, die Ideologe! dieses Plans hätten von seiner Verwirklichun; eine ähnliche Vorstellung wie Lenin von de Wirtschaft Rußlands in der Zeit vor 1917 Damals wollte er sie nämlich noch „wie dii Post“ organisieren!

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