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Dorf im Umbruch

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Die Universität Wien hat gemeinsam mit der Hochschule für Bodenkultur 1952/53 durch den bekannten Agrarpolitiker Lothar Brauneis die Lebensverhältnisse eines Kleinbauerndorfes im Einflußbereich der Großstadt Wien untersucht*. Aus den vielen aufschlußreichen Einzeluntersuchungen ergab sich die Wandlung einer Bauerngemeinde in eine Industriesiedlung, eine zunehmende Abwanderung von Mensch, Kapital und Boden aus der Landwirtschaft. Die Ergebnisse der Untersuchung können, obgleich sie sich nur auf eine einzelne Gemeinde beziehen, da und dort verallgemeinert werden, da sie typisch für die soziologische und ökonomische Strukturwandlung des Dorfes sind.

Das Dorf Hundsheim, um das es sich hier handelt, liegt in Niederösterreich, östlich von Wien, südlich der Donau. Seine Geschichte wurde durch den historischen Kampfraum bestimmt, in dem es liegt. Bauweise, Flurgestalt und häufige Nachsiedlung sind die Folgen der kriegerischen Ereignisse seit dem 12. Jahrhundert. Sie haben Landschaft und Bewohner bis auf den heutigen Tag geprägt. Die Gemeindebevölkerung zählt 673 Einwohner, sie ist zu 99 Prozent römisch-katholisch. Ihre Anteilnahme am kultischen Leben ist rege. 64 Schüler besuchen die zweiklassige Gemeindevolksschule, 19 die Hauptschule in Hainburg, 2 die Untermittelschule in Bruck an der Leitha und einer die Universität Wien. Die gesamte Jugend zwischen 18 und 25 Jahren besuchte die landwirtschaftliche Fortbildungsschule, die landwirtschaftliche Fachschule in den letzten Jahrzehnten keiner.

Das Kulturartenverhältnis zeigt ein Ueber-wiegen des Ackerlandes, es beträgt 60 Prozent und veränderte sich seit dem Vergleichsjahr 1785 nur um 6 Prozent. Weingarten und Garten sind fast verschwunden.

Die Abnahme der Gärtenfläche ist auf die veränderte Anbautechnik für Hackfrüchte, die der Weinfläche auf die Intensivierung der Wirtschaft zurückzuführen.

Die Viehbestandsveränderungen sind ein Spiegelbild der letzten Jahrzehnte. Kriege und Futterknappheit verursachten bei ajlen Vieharten einen Rückgang. Heute ist zumeist der Stand von 1939 wieder erreicht. Der Pferdebestand zeigt eine Zunahme bis 1949. Dies ist auf die intensivere Bodenbearbeitung und die Anlage des Geldes in inflationssichere Werte zurückzuführen. Nach 1949 ging die Pferdezahl durch die Geldstabilisierung und zunehmende Technisierung zurück. Die Schweinehaltung hat sich in den Jahren 1910 bis 1944 vervierfacht. Der Grund für den Anstieg war die Drosselung der Schweineeinfuhr seit 1938. Der Stand an Milchkühen zeigt gleichfalls eine starke Zunahme. Der Milchverkauf bildet heute bereits eine der Haupteinnahmen des Dorfes. Die Rinderhaltung erwies sich als unrentabel, da sich der Konsum auf Schweinefleisch umstellte. Aus dem gleichen Grunde trat die Schafzucht zurück.

Die Technisierung der Landwirtschaft setzte erst seit einigen Jahren ein. 1920 war der Maschinenbesatz gering. Während des Krieges fielen die allermeisten Maschinen der Vernichtung zum Opfer. Die Vergleichszahlen bringen ein klares Bild:

In Hundsheim liegt die Schwierigkeit des Maschineneinsatzes in der Zerteilung des Grundbesitzes und in der verhältnismäßig geringen Größe der Wirtschaften.

Interessant sind die oftmals veränderten Eigentums- und Arbeitsverhältnisse. Die Grundeigentumsverhältnisse sind rein bäuerlich, bei einem großen Flächenanteil der Gemeinde (20 Prozent). 93 Prozent aller Betriebe haben die Größenklasse bis 20 Hektar; hier wieder 22 Prozent in der Größenklasse 0,0 bis 0,5 Hektar, und 23,95 Prozent in der von 10 bis 20 Hektar. Die Gegenüberstellung der Jahre 1824 und 1952 zeigt, als Folge der Realteilung und der Aenderung der Ackernahrung, die Abnahme der mittleren Besitzgrößen und die Zunahme der kleineren. (Die Ackernahrung ist die unterste Besitzgröße, aus deren Ertrag eine Familie ihre gesicherte Existenz hat. Umfragen ergaben, daß 10,7 Hektar die notwendige Fläche sei.) Die Größenklasse von 5 bis 10 Hektar ist in Auflösung. Von 22 Betrieben dieser Größe sind nur noch 13 vorhanden; sie leben ausschließlich von der Landwirtschaft, obwohl sie nicht die Größe der Ackernahrung besitzen. Die Arbeitsintensität ist daher ungeheuer, sie beträgt 16 Stunden täglich im Durchschnitt, während der Ernte 20. Sonntagsarbeit ist üblich. Der größte Teil der Landflüchtigen kommt aus dieser Größenklasse. Von den Ab-wanderern aus der Gemeinde gingen 60 Prozent in die Industrie und das Gewerbe, 29 Prozent in den öffentlichen Dienst, 6 Prozent in die freien Berufe und nur 5 Prozent in die Land-und Forstwirtschaft anderer Gemeinden. Die Betriebe unterhalb -der Ackernahrung sind auf Nebenerwerb angewiesen. Aus der Tabelle geht hervor, daß von den Betrieben der Größenklasse 0,5 bis 2 Hektar von 32 nur einer aus der Landwirtschaft sein Einkommen bezieht, in der Klasse 2 bis 5 Hektar von 19 bloß 5, in jener von 5 bis 10 Hektar von 22 Betrieben 13 und in der von 10 bis 20 Hektar von 37 bereits 33. Die Zahl der Familienmitglieder, die ein Nebeneinkommen beziehen, wird somit größer, je kleiner der Betrieb ist. Der Zahlenvergleich zwischen landwirtschaftlichem Einkommen und Lohnanspruch zeigt ein Ueberwiegen des letzteren. In vielen Fällen wird nicht einmal der Lohnanspruch der Besitzersfamilie gedeckt. Der Betrieb ist reiner Arbeitsbetrieb, der als Existenzsicherung für die Notzeit odc aus Tradition weitergeführt wird. Bei zwei von drei Betrieben beträgt der Lohnanspruch der Besitzerfamilie das Doppelte des landwirtschaftlichen Einkommens. Das heißt, es wird praktisch um den halben Lohn gearbeitet. Die Besitzer sind gezwungen, ein Einkommen außerhalb der Landwirtschaft zu suchen oder unter dem allgemeinen Lebensstandard zu vegetieren und einen Vermögensverlust in Kauf zu nehmen.

Mit der Verschiebung der rechtlichen Verhältnisse ergaben sich tiefgehende Veränderungen. Während der Untertänigkeit beschäftigte der Robot leistende Bauer Gesinde. In Hundsheim fielen auf einen Betrieb zwei männliche und zwei weibliche Gesindekräfte. 1882 gab es 232 beschäftigte Gesindekräfte, 1952 nur noch zwei. Dies bedeutet einen gänzlichen Zusammenbruch der Gesindeverfassung. Im bäuerlichen Betrieb herrscht heute die Familienverfassung. Die Arbeit wird von der Familie selbst unter Einsatz von Maschinen und Aushilfskräften geleistet. Bei den Betrieben unterhalb der Ackernahrung wird das Familieneinkommen zum großen Teil außerhalb des Dorfes und der Landwirtschaft erarbeitet. Es entwickelten sich soziologische Betriebstypen, von denen der häufigste der Arbeiterbauer ist. Bei ihm wird die Landwirtschaft zur bloßen Existenzsicherung (krisenfester Industriearbeiter) oder sie stellt ein Zusatzeinkommen dar. Ein anderer ist der aus der Grundabgabe weichender Bauern entstandene Siedlerbetrieb. Er wird aus Liebe zur Scholle betrieben und ist der Betriebstyp des Rentners. Der kleinbäuerliche Betrieb steht in der Kampfzone der Landwirtschaft. Hier zeigt es sich, ob bei besonderer Tüchtigkeit des Besitzers durch Kauf und Zu-pachtung des Bodens ein Bauernbetrieb entsteht oder zum Nebenbetrieb herabsinkt. Bei diesem Betriebstyp findet die Landwirtschaftsflucht des Menschen, Bodens und Kapitals statt. Die Entwicklung ist in vollem Gange.

Die beunruhigendste Erscheinung ist der katastrophale Geburtenrückgang und die damit verbundene Vergreisung des Dorfes. Die Zahlen sprechen eine nüchterne Sprache:

Jahr Sterbefälle Geburten 1900 12 24

1925 15 20

1940 4 13

1950 6 1

1952 7 2

Die Nachwuchsjahrgänge sind im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung wesentlich schwächer als die in voller Schaffenskraft stehenden Jahrgänge. Die Bevölkerung zeigt in ihrer Gesamtheit eine Verringerung der Einwohnerzahl. Die Anzahl der Familienmitglieder ist seit 1902 von 5,3 auf 3,5 gesunken. Bei Familien mit keinem oder geringem Bodenbesitz — im städtischen Lebenskreis des Dorfes — herrscht die Ein-generationenfamilie vor. Sie sind im Altersaufbau jünger und kinderreicher als die bäuerliche Familie. In der Besitzgröße der Ackernahrung (10 bis 20 Hektar) findet man die Mehrgenerationenfamilie und das Ein- und Zweikindersystem. Die Wohnverhältnisse in der untersuchten Gemeinde sind schlecht. Die Räume meist feucht, finster und oft sogar unheizbar. Eine Wasserleitung fehlt. Auch der Gesundheitszustand ist unbefriedigend. Die einseitige Ernährung der Erwachsenen verursacht Magen-und Darmerkrankungen, die Arbeitsleistung fördert Bruchleiden und Krampfadernbildung. Trotz dieses schlechten Gesundheitszustandes ist die Säuglingssterblichkeit fast Null. In den Jahren 1850 bis 1860 starben von 100 Kindern 45 Prozent bei der Geburt und 29 Prozent im ersten Lebensjahr.

Die Familie selbst bildet nur noch so weit eine Arbeitsgemeinschaft, als sie noch gemeinsam in der Untersuchungsgemeinde arbeitet, das ist bei den bäuerlichen Betrieben der Fall. Bei den anderen sind rein städtische Verhältnisse eingetreten. Die Eltern stehen hier zueinander und zu den Kindern in einem Partnerschaftsverhältnis. Hier ist der Bauer der leitende Teil der Außenwirtschaft, der erwachsene Sohn besitzt eine beratende Stimme. Der Frau obliegt die Innenwirtschaft, sie findet nur selten Entlastung durch Familienmitglieder und muß bei Arbeitsspitzen überdies auch in der Außenwirtschaft mitarbeiten. Die Jugend nimmt eine geschützte Stellung im Dorf und in der Familie ein. In bezug auf Kleidung und Vergnügen wird ihr sehr viel geboten. Sie nimmt nur an den internsten Familienfeiern teil. Ihre Freizeit verbringt sie außerhalb der Familie und des Dorfes Die dörfliche Tracht ist verdrängt worden. In der Sonn- und Werktagskleidung vollzog sich ein Wandel. Die Aelteren tragen noch die herkömmliche Arbeitskleidung, die Jüngeren bevorzugen den Overall und den Schlosseranzug. Auffallend ist das Eindringen des Lumberjacks, der sich auch als Sonntagstracht durchgesetzt hat. Die Gruppen, die als Notgemeinschaft entstanden sind, nehmen auf das Dorfleben keinen Einfluß mehr. Heute führen lediglich finale Zweckverbände Jeren Rolle weiter: der Sparverein, der Verband der Kriegsopfer und der Pensionisten. Die Feuerwehr übernimmt zum Beispiel die Aufgaben der früheren Dorfburschenschaft.

Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, daß Hundsheim ein „aktives Dorf“ sei, da es das Problem der Sicherung eines ausreichenden Einkommens in aktiver Auseinandersetzung gelöst habe. Dies gelang durch Arbeit außerhalb der Landwirtschaft und des Dorfes. Das bewirkte eine Wandlung in eine Industriesiedlung. Sie wurde allerdings noch nicht vollends abgeschlossen. In dieser Mittelstellung Bauern-gemeinde-Industriesiedlung kann man aber mit Recht von einem „Dorf im Umbruch“ sprechen.

Wiener Katholische Akademie

Wiener Katholische Akademie. 25. IV., 17 Uhr: Doktor Walter Kornfeld: Hebräischer Sprachkurs. — Prof. AndrÄ Espiau de La Maestre: Paul Claudel et le cathollcisme.— 18 Uhr: Dr. P. Alfred Pocke SJ.: Philosophie der Kunst. — Dr. Heinrich Peter: „Zeitgeist und christliche Bildung. — Dr. P. Alois Kubischok SVD.: Mensch und Gnade. — 19 Uhr: Dr. Robert John: Die italienische Literaturgeschichte in ihren Hauptvertretern. — Doktor P. Alois Selzer: SVD.: Geschichte und Ergebnisse der Denkpsychologie. — Dr. Walter Kornfeld: Die Theologie des Alten Testamentes. — 26. IV., 17 Uhr: Dr. Luitpold Grießer: Lektüre antiker und christlicher griechischer Texte. — 18 Uhr: Dr. Lambert Haiböck: Wiener Zeitgeschehen 1848—1918 im Spiegel der Presse. — Dr. Walter Kornfeld: Der alte Orient, seine Völker, Geschichte und Kultur. — 19 Uhr: Dr. P. Severin Grill: Ausgewählte Texte aus dem Alten Testament. — P. Superior Alfons Well: Die klassische Logik. — 27. IV., 17 Uhr: Doktor Friedrich Billicsich: Lektüre antiker und christlicher lateinischer Texte. — 18 Uhr: Dr. Hans Moritz: Kinder, die ihren Erziehern und Lehrern Schwierigkeiten bereiten. — DDr. Gerhard Egger: Die Kunst der Romantik (mit Lichtbildern). — 19 Uhr: Dr. Rainer Schubert-Soldern: Philosophie des Lebendigen. — Dr. Renate Rieger: Die Kunst der Renaissance (mit Lichtbildern). — Dr. Josef Tzöbl: Die Grund- und Freiheitsrechte des . Staatsbürgers. — 28. IV., 17 Uhr: Dr. Leopold Nowak: Die Klaviersonate: ein Kapitel Hausmusik. — 19 Uhr: Dr. Richard Kremser: Die großen Religionen der Erde. — 29. TV., 17 Uhr: Dr. Franz Loidl: Geschichte der Kirche seit dem großen Schisma. — 18 Uhr: Dr. p. Rainer Rudolf: Die deutsche Mystik. — DDDr. Albert Niedermeyer und Dr. Erwin Ringel: Psychopathologie und religiöse Fehlhaltungen. — Dr. P. Leopold Grill: Ter hl. Bernhard von Clairvaux. — 19 Uhr: DDr. Felix Romanik: Verirrunen in der modernen Kunst (mit. Lichtbildern). — Alle Vorträge Wien I, Freyung 6 (Schotten, hof), I. und II. Stiege (Sekretariat und Schottengymnasium).

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