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Digital In Arbeit

Ein gewagtes Experiment

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In der Zeit der Gleichmacht von Unternehmerverbänden und Gewerkschaften ist der Lohn nicht nur Marktlohn, sondern in einem gewissen Umfang auch Machtlohn und insoweit der Ausdruck der Machtverhältnisse auf höchster politischer Ebene. Der Lohn hat also den Charakter eines politischen Lohnes.

Die Lohnpolitik eines großen Teiles der Unternehmer ist nun darauf gerichtet, die Löhne niedrig zu halten, und zwar so lange und so weit, als dadurch nicht die Leistung der Arbeiter abzusinken droht. Für die Arbeitnehmervertreter bedeutet dagegen Lohnpolitik meist Handeln im Glauben an die Möglichkeit so gut wie unbeschränkter Lohnerhöhungen, das heißt aber: Bemühen, die Löhne so weit zu steigern, daß dadurch der Unternehmergewinn (zumindest das, was die Nationalökonomie den „Restgewinn nennt) irgendwann einmal zum Verschwinden gebracht wird. Dadurch wäre dem Anspruch auf den vollen Arbeitsertrag Rechnung getragen.

Der Lohnkampf ist unvermeidbar. Er ist geradezu naturnotwendig und moralisch weder gut noch schlecht. Zu verurteilen sind jedoch jene Kämpfe (oder Diktate) um einen Lohn, der zum Beitrag der Arbeiterschaft am Betriebserfolg in einem Mißverhältnis steht. Ein Lohn etwa, der kaum das Existenzminimum des Arbeiters deckt, ist ebenso falsch, wie eine Lohnerhöhung von derartigem Umfang, daß sie auf die Letztverbraucherpreise überwälzt und so von der Gesamtheit der Konsumenten getragen werden muß.

Eine Lohnsteigerung, die auf den Preis überwälzt wird und nicht auf den Unternehmergewinn (ihn kürzend) rückgewälzt werden kann, ist aber volkswirtschaftlich meist falsch. Wenn die Nominallöhne allgemein gestiegen sind, können sich die Arbeitnehmer jetzt nicht mehr kaufen als vor der Lohnsteigerung. Ihr Reallohn ist als Folge des Anstieges der Preise unverändert geblieben, wenn nicht gar gesunken. Werden nur die Löhne von einzelnen Gruppen übermäßig erhöht, so wird die Lohnsteigerung im Wesen von den anderen, noch nicht „nachgezogenen“ Arbeitnehmergruppen getragen werden müssen.

Trotz dieses offenkundigen Tatbestandes ziehen die Gewerkschaftsführer oft Nominallohnerhöhungen (die man auf ihr Konto bucht) den Reallohnerhöhungen durch Preissenkungen (die man wieder den Unternehmern zuschreiben könnte) vor. Dadurch wird aber bei der Arbeiterschaft eine Geldillusion und zugleich eine Wohlfahrtsillusion ohne echte Wohlstandssteigerung geschaffen. Die Arbeiter werden in einer wohldosierten Unzufriedenheit gehalten.

In die unvermeidliche und Gott sei Dank nicht mehr aus der Welt zu schaffende Diskussion um die notwendige Steigerung des Reallohnes haben nun die westdeutschen Gewerkschaften ein neues Argument gebracht: Die Löhne seien, so sagt Dr. A g a r t z, Chef des wissenschaftlichen Büros des Deutschen Gewerkschaftsbundes, nicht nur dem produktiven Beitrag des Arbeiters am Produktionsergebnis anzupassen, sondern darüber hinaus zusätzlich zu steigern. Dadurch werde die Massennachfrage erhöht und die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung gefördert. Das heißt also Kaufkraftinjektionen, Vorwegnahme künftiger Produktivität, die durch Nachfragesteigerung seitens der jetzt mit mehr Kaufkraft ausgestatteten Arbeitermassen herbeigeführt werden soll. Die Kaufkrafttheorie, welche ebenso wie die Unterkonsumtionstheorie hinter der Forderung nach Gewährung von expansiven Löhnen steht, geht von der Tatsache aus, daß der Lohn wohl betrieblich ein Kostenfaktor, aber überbetrieblich ein Element der globalen, volkswirtschaftlichen Nachfrage ist und dadurch wieder — gesamtwirtschaftlich gesehen — in die Kassen der Unternehmer zurückfließt. In der volkswirtschaftlichen Bilanz hat daher der Lohn den Charakter einer „durchlaufenden Post". Die vom Initiallohn gebildete wirtschaftliche Entwicklungslinie soll folgenden Verlauf nehmen: Mehr Lohn — mehr Kaufkraft — mehr wirksame Nachfrage — mehr Absatz bzw. Mehrerzeugung — Investitionssteigerung — Mehrbeschäftigung usw. Manche Gewerkschaftsführer gehen bei ihren Forderungen wohl, auch von der sogenannten „Peitschentheorie" aus: die Unternehmer werden durch Lohnerhöhungen einfach gezwungen, zu rationalisieren und die Produktivität ihres Betriebes zu steigern.

Angesichts der nicht auf Deutschland beschränkten, sondern weltweiten und permanenten Lohnforderungen muß man sich nun fragen, ob eine solche Entwicklung nicht ge-eignet ist, das auf die sogenannte Lösung der „Sozialen Frage" gerichtete Bemühen, etwa durch Reduktion der ökonomischen Substanz, ernstlich zu stören.

Lohnerhöhungen können zwei große Wirkungen haben: a) Steigerung des relativen Anteils der Arbeiterschaft am Sozialprodukt = relative Verkürzung des Anteils der Eigentümer-Unternehmer. Das ist geschehen und war notwendig. So verminderte sich zum Beispiel in Westdeutschland das Durchschnittseinkommen der Selbständigen, gemessen am Volkseinkommen zwischen 1951 und 1953, von 39,2 Prozent auf 34,7 Prozent; b) kann eine Lohnerhöhung eine Anpassung an den gestiegenen Beitrag des Arbeiters am Betriebsgewinn darstellen. Dabei ist zu bedenken, daß die Erhöhung des Leistungseffektes des einzelnen Arbeiters noch keine gleichgroße Steigerung des Betriebsgewinnes zur Folge haben muß. Wenn sich die Produktivität je Arbeitsstunde von einer Leistung von einem Kilogramm auf eineinhalb Kilogramm erhöht, sind durch diese Mengenmehrleistungen noch nicht der Verkaufserlös und der Nettogewinn um 50 Prozent gestiegen. Die zusätzliche Erzeugung ist zuvorderst in Erlös zu verwandeln, das heißt, sie ist dem Urteil des Käufers und der Entscheidung des Marktes auszusetzen. Die Mengenproduktivität muß erst zur Marktproduktivität, also in Geld-werte, umgesetzt werden. Entlohnt wird der Arbeiter ja in Geld und nicht in Sachwerten.

Es ist nun offensichtlich, daß die Produktivität, insbesondere der industriellen Erzeugung, auf der ganzen Welt fast ohne Unterbrechung steigt, z. B. in den USA um zirka 3 Prozent im Jahr. Die Ursachen dieser Erhöhung der Produktivität sind insbesondere: a) bessere Arbeitsleistungen, vor allem als Folge des Leistungslohnes, durch den bisher vorenthaltene Leistungen (Leistungsreserven) frei gemacht worden sind, b) bessere Organisation im Zusammenwirken von Kapital und Arbeit und c) der Konsumverzicht der Sparer, deren Mittel erst die Finanzierung von Produktionssteigerungen etwa durch den zusätzlichen Einsatz von Maschinen möglich gemacht haben.

Es ist nur recht und billig, wenn die Arbeiterschaft ihren Anteil an der Produktivitätssteigerung, soweit diese in der Form von Mehrerlösen hereinkommt, verlangt, und zwar d a u e r n d verlangt; ist doch der Produktivitätsanstieg ebenfalls ein dauernder. Freilich ist eine Zurechnung der nur vom Arbeiter herbeigeführten Steigerung der Produktivität und des entsprechenden Verkaufs wertes dieser Mehrerzeugung rechnerisch ebenso unmöglich wie es sachlich nicht vertretbar wäre, das gesamte Mehrergebnis der Produktivitätssteigerung (in Westdeutschland stieg die Produktivität von April 1953 bis April 1954 von 109,7 auf 113,9 Punkte) lediglich auf den vermehrten Arbeitseinsatz oder die Kapitalvermehrung zurückzuführen. Sind doch an der Produktion nicht allein betrieblich gebundene Faktoren, sondern eine Unzahl anderer überbetrieblich gebundener Elemente beteiligt. Ganz abgesehen davon, daß bei Ausschüttung des gesamten Mehrergebnisses die Finanzierung künftiger Investitionen aus Eigenmitteln unmöglich wäre.

Bei ständiger Anpassung des Lohnes an das (kommerzialisierte) Arbeitsergebnis, kommen wir zu einer Art Indexlohn (den schon Seipel gefordert hat). Freilich wird heute ein solcher Indexlohn nur nach oben beweglich sein. Das führt dazu, daß Produktivitätssteigerungen Löhne und Unternehmergewinne erhöhen und auch zu Preisreduktionen beitragen, während eine Verringerung der Produktivität auf die Konsumenten in Form von Preiserhöhungen und Qualitätsverschlechterung überwälzt wird.

Trotz zeitweiliger Ueberforderungen durch einzelne Gewerkschaften (gibt es nicht auch Preisüberforderungen?), muß man bedenken, daß die soziale Unordnung nicht, wie viele meinen, ausschließlich durch eine Vermenschlichung des Betriebes und durch Einführung einer Mitbestimmung beseitigt werden kann, sondern vor allem durch Einkommensteigerung bei den Massen der Unselbständigen. Die Lohnsteigerung ist die am stärksten empfundene Wohlstandserhöhung und am ehesten geeignet, das soziale Konfliktbewußtsein zu reduzieren.

Ob aber eine nachhaltig wirksame Reallohn- steigerung durch Vorgriffe auf künftige Produktivitätserhöhungen herbeigeführt werden kann, ist dagegen eine sehr umstrittene Frage, eine kühne, noch unbewiesene Annahme. Der Lohn kann in der sozialistischen wie in der freien Wirtschaft nur aus bereits geschaffenen und verfügbaren betrieblichen oder außerbetrieblichen Fonds gezahlt werden. Wenn man die Löhne um 3 Milliarden pro anno erhöht (wie jetzt in Westdeutschland), so bedeutet das eine um 3 Milliarden (abzüglich Steuern, Sozialversicherungsbeiträge und Hortungsgeld) gestiegene wirksame Nachfrage. Wenn der vermehrten Nachfrage (die sich freilich auf eine

Reihe von Lohnauszahlungsperioden verteilt)’ eine gleichgroße oder nicht erheblich vermehrte Gütermenge gegenübersteht, so sind Preisauftriebe, die die Lohnsteigerung in ihrer Wirkung zum Teil aufheben, unvermeidbar, insbesondere, wenn etwa innerhalb der Anpassungsperiode neue Lohnforderungen durchgesetzt werden.

Wird der Lohn der Arbeitnehmer aber nicht im ungefähren Ausmaß der Produktivitätssteigerung (die von Betrieb zu Betrieb verschieden ist) miterhöht, dann sinkt die Quote des arbeitnehmerischen Einkommens gegenüber dem Besitzeinkommen ab; es kommt zu dem, was Lasalle die „relative Verelendung" genannt hat (es kann das Arbeitef- einkommen absolut steigen, verhältnismäßig stärker steigt aber das Einkommen der Eigentümer der Produktionsmittel. Der relative Abstand im Einkommen von Arbeitern und Kapitalisten nimmt zu).

Daher Produktivitätslohn, besser, erfolgsabhängiger, nach unten durch Mindestlöhne gesicherter Lohn. Nur der Produktivitätslohn, der dauernd mit der vom Arbeiter gebotenen und ansteigenden Leistung mitsteigt, ist ein expansiver, ein dynamischer Lohn. Ein Lohn, der mit Geldabwertung erkauft wird, ist ein Politikum und von einer gewissen Höhe an identisch mit einem Preisraub an den Konsumenten (zu denen ja auch die Arbeiter gehören). Ein übersteigerter Lohn ist daher ebenso ein Rückschritt, unökonomisch und letztlich unsozial wie die expansive Gewinnpolitik mancher privater oder öffentlicher Unternehmungen, der wirksam zu begegnen man sich in Oesterreich leider nicht immer entschließen kann.

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