Ein Marshallplan für Osteuropa

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Die Aufnahme der osteuropäischen Reformländer ist eines der wichtigsten Projekte der Union - und damit auch ein Thema von Österreichs EU-Vorsitz.

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Die Aufnahme der osteuropäischen Reformländer ist eines der wichtigsten Projekte der Union - und damit auch ein Thema von Österreichs EU-Vorsitz.

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Im Jahre 1946 produzierte die österreichische Wirtschaft nur etwa halb so viel Güter und Dienstleistungen (Bruttoinlandsprodukt, BIP) wie im letzten Vorkriegsjahr 1938. Es folgte eine beachtliche Phase des Wiederaufbaus, und schon 1951 wurde das Vorkriegsniveau wieder erreicht. Für den Wiederaufbau erhielt Österreich im Rahmen des European Recovery Programs (ERP), besser bekannt unter dem Namen Marshall-Plan, zwischen 1948 und 1951 amerikanische Wirtschaftshilfe (Schenkungen) im Ausmaß von insgesamt 703,5 Millionen US-Dollar. Zum Vergleich: das österreichische BIP des Jahres 1950 betrug 2.430 Millionen US-Dollar. Diese Hilfe trug nach jüngsten Schätzungen 1948/49 im Ausmaß von acht Prozentpunkten und 1949/50 im Ausmaß von einem Prozentpunkt zum österreichischen Nachkriegswachstum bei. Ähnliches gilt, wenn auch in etwas bescheideneren Größenordnungen, für nahezu alle anderen EU-Länder (Ausnahmen: Finnland und Spanien) sowie für Norwegen, Island und die Türkei.

Die nach dem Krieg einsetzende Trennung Europas war nicht nur politischer, sondern auch wirtschaftlicher Natur. Die unter sowjetischem Einfluß stehenden Länder Osteuropas erhielten keine Marshallplan-Hilfe, und sie schlugen einen gänzlich anderen wirtschaftspolitischen Weg ein als die ERP-Empfängerländer. Der Kalte Krieg war auch ein Wettstreit zwischen verschiedenen Wirtschaftssystemen. Das sozialistische Modell der Sowjetunion führte langfristig zu breiter Enttäuschung und schließlich 1989/90 zum Fall des Eisernen Vorhangs.

Die ehemals sozialistischen Länder Mittel- und Osteuropas durchlaufen seitdem einen Prozeß der Transformation in Richtung eines marktwirtschaftlichen Systems und der politischen und wirtschaftlichen Öffnung gegenüber dem Westen. Diese Reform war allerdings keineswegs mit einer raschen Wohlstandsvermehrung verbunden. Vielmehr haben die europäischen Transformationsländer zwischen 1989 und 1994 eine Schrumpfung ihres Bruttoinlandsprodukts erfahren, und zwar insgesamt im Ausmaß von nicht weniger als 32,6 Prozent! Dies ist für Friedenszeiten historisch einmalig. Waren Länder wie die Tschechoslowakei und Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg noch in einer mit Österreich durchaus vergleichbaren Situation, so wiesen sie 1996 ein BIP auf, das - mit Kaufkraftparitäten und pro Kopf berechnet - nur wenig mehr als die Hälfte beziehungsweise ein Drittel des EU-Durchschnitts ausmachte. Für Polen, Rumänien und Bulgarien fällt der Vergleich noch dramatischer aus. Man ist versucht, bezüglich der langfristigen ökonomischen Entwicklung dieser Länder von einer verlorenen Jahrhunderthälfte zu sprechen.

Ist nach der Wende nun der Zeitpunkt für eine - man könnte sagen: verspätete - Ausdehnung der Wiederaufbauhilfe auf die seinerzeit von der Geschichte wenig begünstigten Länder Mittel- und Osteuropas gekommen? Welche Form, welches Ausmaß soll ein Marshall-Plan für den Osten annehmen?

Die Analogie zum Marshall-Plan liegt zwar auf der Hand, aber sie hat durchaus auch ihre Grenzen. Ging es nach dem zweiten Weltkrieg in erster Linie um den Wiederaufbau von Ländern, deren Produktionsapparat nur beschränkt - und vor allem für relativ kurze Zeit - marktwidrig verwendet worden war, so sind die Transformationsländer mit Produktionsstrukturen konfrontiert, die nach der über Jahrzehnte währenden Außerkraftsetzung des Preismechanismus massive Verzerrungen aufweisen. Der Marshall-Plan war also ein Wiederaufbauprogramm, im Falle Osteuropas besteht die Herausforderung hingegen in einer marktgerechten Umstrukturierung. Dies wird noch verschärft durch die Globalisierung: Während die ERP-Empfängerländer seinerzeit faktisch geschlossene Ökonomien darstellten, müssen sich die Transformationsländer nun auf weltweit integrierten Gütermärkten behaupten. Die zerstörerische Kraft des Preismechanismus, ein Merkmal jeder Umstrukturierung, wirkte mithin zu Beginn der neunziger Jahre wesentlich stärker als zu Zeiten des Marshall-Plans. Der schon erwähnte Einbruch der Ökonomien Osteuropas steht denn auch in auffälligem Kontrast zu der Nachkriegsphase Westeuropas, wo sofort starkes Wirtschaftswachstum beobachtbar war.

Dies scheint heute eine westliche Hilfe besonders dringlich zu machen, aber man sollte dabei bedenken, daß jede Hilfeleistung eine Gratwanderung zwischen der - angestrebten - Erleichterung der Umstrukturierung und der - unerwünschten - Verzerrung von Anreizen darstellt. Dieser Grat war wegen des geringeren Umstrukturierungsbedarfs zu Zeiten des Marshall-Plans sozusagen breiter als im Falle der Transformationsländer (aber selbst bezüglich des Marshall-Plans meinen manche Beobachter, daß dieser Grat teilweise verlassen wurde).

Auf der anderen Seite stellt die wesentlich stärkere weltweite Integration nicht nur eine Verschärfung der Situation, sondern auch eine Chance dar: der internationale Handel fördert eine rasche Übernahme westlicher Technologien, und die internationale Kapitalmobilität erlaubt den Transformationsländern einen relativ leichten Zugriff auf ausländische Ersparnisse, was den ERP-Empfängerländern seinerzeit nahezu vollständig verwehrt war.

Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die Erwartungen. Diese waren in der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg wohl sehr bescheiden. Das Scheitern des sozialistischen Modells hat hingegen, in Verbindung mit der Rhetorik des Kalten Krieges, in den Transformationsländern mitunter stark überzogene Erwartungen bezüglich der Leistungsfähigkeit des westlichen Modells erzeugt. Dies mag nun eine Desillusionierung breiter Bevölkerungsschichten mit sich bringen, die den Transformationsprozeß von politischer Seite her in Gefahr bringen kann.

Insofern eine längerfristig prosperierende Entwicklung osteuropäischer Länder auch im Interesse Westeuropas liegt, wohnt also dem Hilfsargument nicht nur eine humanitäre, sondern auch eine eigennützige Komponente inne, vergleichbar vielleicht mit den amerikanischen Eigeninteressen an der Marshallplan-Hilfe. Dieser Aspekt überzeugt besonders dann, wenn die Hilfeleistung an Bedingungen, das heißt bestimmte Verhaltensweisen der Empfängerländer, geknüpft ist, wie dies ja auch beim Marshall-Plan der Fall war. Solche wohlverstandene Konditionalität pervertiert ein Hilfsprogramm keineswegs zu einem bloßen Instrument des Eigennutzes des Gebers, sie soll vielmehr sicherstellen, daß die Hilfe sich letztlich für beide Seiten auszahlt. Man kann hier auch von einem Effizienzargument für Hilfe sprechen.

Ist die Osterweiterung der EU in diesem Sinn ein vernünftiges Hilfsprogramm für die Transformationsländer? Sie würde in der Tat erhebliche Transferleistungen von West- nach Osteuropa bedeuten, geknüpft an sehr tiefgreifende Bedingungen, nämlich die Übernahme des gesamten Rechtsbestandes der Europäischen Union durch die Beitrittsländer. Die politische Diskussion konzentriert sich fast ausschließlich auf die budgetären Folgen der Osterweiterung, und sie erfolgt unter gegenüber der vergangenen (vierten) Erweiterung (Finnland, Österreich, Schweden) umgekehrten Vorzeichen: Während die Transformationsländer ein großes - und auch innerhalb dieser Länder kaum umstrittenes - Interesse an einem raschen Beitritt zeigen, ist die Bereitschaft der EU zu einer Osterweiterung - vorsichtig ausgedrückt - gedämpft. Es stehen arme und stark agrarisch ausgerichtete Länder zum Beitritt an, die als Vollmitglieder allesamt Nettoempfänger von EU-Mitteln wären. Wie groß ist die auf ein Land wie Österreich zukommende budgetäre Last? Steht dieser Last ein handfester Vorteil gegenüber, oder müssen wir sie als Beitrag zu einer gesamteuropäischen Prosperität auffassen, vielleicht moralisch abgeleitet aus der Gunst, die Österreich in der Zeit des Marshall-Plans zuteil wurde?

Zunächst ein Wort zu den Kosten der Erweiterung. Diese hängen aus der Sicht eines einzelnen Landes natürlich von den Anpassungen ab, welche die EU im Falle der Erweiterung zum Zwecke des (vertraglich vorgeschriebenen) Budgetausgleichs vornehmen wird. Diese sind zur Zeit noch nicht bekannt, aber man kann einige Gedankenexperimente durchführen. Zieht man etwa Schätzungen des WIFO heran, und unterstellt man, daß die erforderliche Anpassung allein durch eine proportional gleiche Anhebung der Beitragssätze erfolgt, so ergeben sich für Österreich im Falle einer EU-Erweiterung um alle zehn in Frage kommenden Länder (Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn) zusätzliche jährliche Beitragszahlungen nach Brüssel im Ausmaß von 0,38 Prozent des BIP. Erfolgt die Anpassung hingegen auf analoge Weise durch eine Reduktion der Rückflüsse aus der gemeinsamen Agrarpolitik beziehungsweise den Strukturfonds, so betragen die jährlichen Kosten 0,27 beziehungsweise 0,16 Prozent des BIP. Im Vergleich dazu bestand die Marshallplan-Hilfe in einem einmaligen Transfer im Ausmaß von 29 Prozent des BIPs von 1950 (die tatsächlichen Zahlungen erfolgten verteilt über die Jahre 1948 bis 1951). Es bedarf somit einiger Jahre, bis die erweiterungsbedingte Mehrbelastung Österreichs die Größenordnung der seinerzeit erhaltenen Marshallplan-Hilfe erreicht.

Noch wichtiger aber sind die in der politischen Diskussion oft vernachlässigten ökonomischen Vorteile, die Österreich aus der mit einer Osterweiterung verbundenen (wenngleich in den sogenannten Europa-Abkommen zum Teil schon vorweggenommenen) Handelsliberalisierung erwachsen würden. Im Rahmen eines vom Bundeskanzleramt und vom Bruno-Kreisky-Forum initiierten Forschungsprojektes wurde eine Reihe von Simulationsrechnungen durchgeführt, die diesbezüglich ein durchaus positives Bild ergeben: Die Liberalisierung führt zu einer effizienteren Nutzung des gegebenen Produktionsapparates, und sie führt auch zu einer Kapitalexpansion. Langfristig verursacht demnach eine Erweiterung um die zehn genannten Länder eine nachhaltige Erhöhung des BIP um rund 1,5 Prozent gegenüber dem Status quo. Unter Berücksichtigung des mit Investitionskosten verbundenen Anpassungsprozesses und der erwähnten Kostenaspekte ergibt sich daraus - je nach Anpassungsmaßnahme zum Budgetausgleich (siehe oben) - ein jährlicher Nettowohlfahrtsgewinn von 0,5 bis 0,8 Prozent des BIP.

Zugegeben, dies sind keine schwindelerregenden Größenordnungen, zumal die Zahlen angesichts der ungemein großen methodischen Herausforderung nur als Richtwerte dienen können. Auch wird die erforderliche Umstrukturierung wohl zu einer temporären Belastung des österreichischen Arbeitsmarktes führen. Aber die Simulationsergebnisse zeigen dennoch eines ganz klar: die alleinige Konzentration auf die budgetären Konsequenzen der Osterweiterung greift viel zu kurz. Man mag den USA vorhalten, der Marshall-Plan sei seinerzeit nicht ohne Beachtung eigener Interessen entstanden, aber er war sicher nicht zum Schaden Europas. Westeuropa steht heute vor der Herausforderung, kleinkrämerisches Interessengerangel zugunsten einer für alle Seiten vorteilhaften paneuropäischen Integration zu überwinden.

Der Autor ist Nationalökonom an der Johannes-Kepler-Universität Linz.

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