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Ein soziales Problem

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Die Voranschläge der beiden großen Rentenversicherungsträger rechnen für das Geschäftsjahr 1950 mit bescheidenen Überschüssen. Die Allgemeine Invalidenversicherungsanstalt als Träger der Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter erwartet am Ende des Jahres 1950 einen Überschuß von zirka 40 Millionen Schilling. Die Angestelltenversicherungsanstalt veranschlagt ihren Gebarungserfolg mit ungefähr 20 Millionen Schilling. Bei gleichbleibender wirtschaftlicher Entwicklung ist anzunehmen, daß die Ergebnisse des Geschäftsjahres 1950 diese Annahme bestätigen werden oder vielleicht darüber noch hinausgehen. Bei einem Ausgabenbudget von ungefähr einer Milliarde Schilling, das der Voranschlag der Allgemeinen Invalidenversicherungsanstalt ausweist, entspräche dieser Erfolg etwa vier Prozent der Ausgaben. In der Angestelltenversicherung, die mit einem Gesamtaufwand von rund 380 Millionen Schilling rechnet, entspräche der geschätzte Gebarungserfolg etwa fünf Prozent der Ausgaben. Diese Gegenüberstellung wäre schon für sich allein geeignet, nachdenklich zu stimmen, da sie keine dem Aufwand entsprechende Rücklagenbildung erlaubt, die für einen Versicherungszweig mit langfristigen Leistungsverpflichtungen unentbehrlich ist. Die Besorgnisse werden größer, wenn man Überlegungen über die Entwicklung der Rentenversicherung in den nächsten Jahren anstellt.

Anwartschafts- und Aufwanddeckung

In der Hauptsache werden in der Rentenversicherung die Mittel durch Beiträge der versicherten Arbeitnehmer und ihrer Arbeitgeber zu gleichen Teilen aufgebracht. Die Höhe der Beiträge wird von dem System bestimmt, das der Bedeckung des Finanzbedarfs zugrunde liegt. Für die reichsdeutsche Rentenversicherung war nach 1391 der Reichsversicherungsordnung, auf den im 172 d es Angestellten Versicherungsgesetzes verwiesen wird, die Bemessung eines durchschnittlichen Beitrages vorpesehen, der mit den Werten aller künftigen Beiträge und den sonstigen Einnahmen samt den? Vermögen den Betrag decken sollte, der nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung mit Zins und Zinseszins erforderlich war, um alle künftigen Aufwendungen zu bestreiten. Er sollte also nicht bloß die laufenden Renten, sondern auch die Anwartschaften decken. Die deutsche Rentenversicherung baute auf dem System der allgemeinen Anwartschaftsdeckung auf. Es würde zu weit führen, zu untersuchen, ob und durch welche Maßnahmen dieses Ziel erreicht wurde.

Bei der Uberleitung des Reichsrechts in die österreichische Rechtsordnung wurden im Bereiche der Rentenversicherung zunächst die Beitragssätze, die in der deutschen Versicherung gegolten hatten, beibehalten, ohne daß das Dek-kungskapital, das am Stichtage der von Österreich zu übernehmenden Versiehe-rungs- und Rentenlast entsprochen hätte, in Anspruch genommen werden konnte, teils weil die Macht dazu fehlte, teils well es selbst durch die deutsche Katastrophe zusammengeschrumpft war. Österreich war und ist daher auf geraume Zeit hinaus genötigt, den Finanzbedarf seiner Rentenversicherung nach dem System der reinen Aufwanddeckung aufzubringen. Diesem Ziele diente die Erhöhung des Beitrages in der Invalidenversicherung von 5,6 Prozent auf die gleiche Höhe wie in der Angestelltenversicherung, nämlich auf 10 Prozent, und die Beteiligung mit einem Viertel am Unfallversicherungsbeitrag für die gewerblichen Arbeiter. Diese Erhöhung erfolgte im zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der Einführung der Arbeiterpensionen und der Erweiterung der Witwenrentenberechtigung in der Invalidenversicherung durch das Bundesgesetz vom 19. Mai 1949, BGBl. Nr. 112. In der Angestelltenversicherung blieb der zehnprozentige Beitrag unverändert.

Die zweite wichtige Maßnahme zur Sicherung des Aufwandes war die Einführung eines Bundesbeitrages in der Höhe eines Viertels des Rentenaufwandes durch die Dritte Novelle zum Sozial-versicherungs-Uberleitungsgesetz.

Haupteinnahme- und Hauptausgabeposten

Die Haupteinnahmeposten in der Invalidenversicherung und in der Angestelltenversicherung sind daher die Versicherungsbeiträge der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber und der Bundesbeitrag. Dem System der Aufwanddeckung gemäß soll der Rentenaufwand in der Hauptsache von diesen beiden Einnahmeposten gedeckt werden. Die Höhe der Beitragseinnahmen hängt wiederum ab von der durchsdinittlichen Zahl der Versicherten und ihrer Beitragsgrundlage, das heißt ihrem Gehalt oder ihrem Lohn. Die Höhe des Bundesbeitra-gel fällt und steigt mit dem Rentenaufwand.

Die ausschlaggebendste Ausgabepost ist der Rentenaufwand. Er wird gebildet durch die voraussichtliche Zahl der Alters- und Invaliditätsrentner, der Witwen- und Waisenrentner multipliziert mit der durchschnittlichen Jahresrentenhöhe in jedem Zweige.

Die zweite größte Ausgabepost ist der Beitrag für die Krankenversicherung der Rentner, der von den Rentenversicherungsträgern an die zuständigen Krankenkassen zu zahlen ist. Die Belastung aus dem Grunde des Krankenversicherungsbeitrages hängt wiederum von der Anzahl der Rentner ab. Steigt die Zahl der Rentner, so steigt auch der Aufwand für die Krankenversicherung der Rentner.

Voraussichtliche Entwicklungstendenzen

Die Allgemeine Invalidenversicherungsanstalt rechnet in ihrem Voranschlag mit einem durchschnittlichen Versichertenstand von 1,060.000 Arbeltern und einer durchschnittlichen Beitragsgrundlage von S 600.— pro Monat, also einem Beitrag von S 60.— (10 Prozent) pro Monat und Versicherten. Die Angestelltenversicherungsanstalt operiert mit einem durchschnittlichen Versichertenstand von ungefähr 320.000 Versicherten und einer durchschnittlichen Beitragsgrundlage von S 760.—, also einem Beitrag von S 76.— pro Monat und Versicherten. Wer diese Ziffern auf sich wirken läßt, kommt zur Uberzeugung, daß mit einer weiteren wesentlichen Steigerung der Beitragseinnahmen durch eine Vergrößerung der Versichertenzahl oder der durchschnittlichen Beitragsgrundlage kaum mehr gerechnet werden darf. Das bedeutet, daß das Optimum an Beitragseinnahmen erreicht sein dürfte und alle Mühe darauf zu legen ist, dieses Ausmaß der Vollbeschäftigung zu halten.

Auf der Ausgabenseite muß leider mit der entgegengesetzten Entwicklung gerechnet werden. Der kurze Bestand der Invalidenversicherung, die in Österreich erst seit 1939 durchgeführt wird, und die Einführung neuer Witwenrentenberechtigungen seit dem Vorjahre in diesem Zweige, das Einströmen eines an Lebensjahren zwar älteren, für die Versicherung aber neuen Stockes von zirka 120.000 Personen in die Angestelltenver-sieherung während des zweiten Weltkrieges, die allgemeine Verlängerung der Lebensdauer und die nicht mehr zeitgemäße,' die Anspruchsberechtigung sehr begünstigende Weitergeltung von Kriegsbestimmungen führen zur logischen Schlußfolgerung, daß der Rentnerstand in den nächsten Jahren ständig zunehmen wird. Man kann darüber streiten, in welchem Umfang der jährliche Zuwachs erfolgen wird, ob die Zunahme jährlich kleiner wird oder nicht. Mit der

Tatsache selbst aber muß gerechnet werden. Diese Auffassung wird durch die Erfahrungen der täglichen Praxis nur zu sehr bestätigt.

Angesichts der Begrenzung der Haupteinnahmepost der Beiträge erwachsen hus dem andauernden und unverhältnismäßig starken Ansteigen der Rentenlast schon in den allernächsten Jahren große Gefahren für das finanzielle Gleichgewicht der Rentenversicherung. Diese Gefahren sind um so bedrohlicher, als die finanziellen Rücklagen, die seit 1945 gebildet werden konnten — es mußte ja damals aus dem Nichts heraus aufgebaut werden — noch viel zu klein sind, um die Abgänge eine Zeitlang decken zu können. Das Problem in der Rentenversicherung steht also nicht so, daß man etwa überlegen dürfte, ob diese oder jene Verbesserung durchgeführt werden soll, das zentrale Problem heißt rechtzeitige Sicherung des finanziellen Gleichgewichts der Rentenversicherung in den nächsten Jahren.

In dieser Lage wäre es unverantwortlicher Leichtsinn, Bestimmungen weiter aufrechtzuerhalten, die im Kriege ihren Sinn gehabt haben mögen, die aber jetzt ihren Sinn völlig verloren haben. Dazu gehören die unentgeltliche Wahrung der Anwartschaften, die Hemmung sämtlicher Verjährungs- und Ausschlußfristen für die Anmeldung von Ansprüchen und das Hinausschieben der Frist für die wirksame Entrichtung von Pflicht- und freiwilligen Beiträgen, die der spekulativen Ausnützung Tür und Tor öffnet Die Anspruchsvoraussetzungen müssen wiederum normalisiert werden. Darüber hinaus sind alle, die Verantwortung für das Schicksal der Rentenversicherung tragen oder sich hiefür verantwortlich fühlen, aufgerufen, in sachlicher und nüchterner Diskussion alle Mittel und Wege zu prüfen, die geeignet sind, das drohende Defizit der nächsten Jahre in der Rentenversicherung zu beschwören, ohne die Rentenbezieher, die des Schutzes besonders bedürfen, zu benachteiligen. Noch ist es Zeit.

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