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Ein üppiges Fest geht zu Ende

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Quälende Finanznot plagt das reiche Europa. Im Sozialbereich wird gestrichen, gekürzt, begrenzt. Bleibt das die einzige Antwort?

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Quälende Finanznot plagt das reiche Europa. Im Sozialbereich wird gestrichen, gekürzt, begrenzt. Bleibt das die einzige Antwort?

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Der Rotstift hat Hochkonjunktur: Die Regierungen der meisten europäischen Staaten haben sich zu empfindlichen Budgetkürzungen durchgerungen. Sie tun dies gezwungenermaßen, da die Defizite der Staatshaushalte zu exponentiell steigender Zinsbelastung und in manchen Fällen bereits zu einem Verlust der Kreditwürdigkeit geführt haben. Ein Ansteigen des Schuldenberges im Tempo der letzten Jahre würde die wirtschaftspolitische Manövrierfähigkeit auf ein Minimum reduzieren. Inflation und Abwertung wären unausweichlich.

Selbst Politiker, die in der Vergangenheit diese Alternative als eine politisch unproblematische Lösung betrachteten, haben inzwischen erkannt, daß Geldentwertung nicht nur einen unverhältnismäßig großen wirtschaftlichen Schaden verursacht, sondern als die brutalste Form der Umverteilung zu Lasten der Kleinverdiener auch sozialpolitisch inakzeptabel ist (siehe dazu FURCHE Nr. 46/1994).

Sicherlich haben in vielen Volkswirtschaften hypertrophe Bürokratie, unzureichende Mobilität und fehlgeleitete Ressourcen zu der Finanzkrise beigetragen. Ein wesentlicher Faktor aber ist die Uberforderung des Staates durch eine Sozialpolitik, die breitgestreut jeden einzelnen bei möglichst geringer Eigenvorsorge auf Kosten der Allgemeinheit vor möglichst allen finanziellen Risken des Lebens schützen wollte.

Das Versagen des überzogenen Wohlfahrtsstaates, der den Bürger von der Geburt bis zum Tode umsorgt, wird gerade dort gut sichtbar, wo er seine deutlichste Ausprägung erfahren hat: Das schwedische Parlament hat erst vor wenigen Wochen ein Budget beschlossen, das eine empfindliche Verringerung der Kinderbeihilfe, des Elterngeldes und Pflegebeitrages, des Wohngeldes für Pensionisten und der Zahlungen an Frühpensionisten vorsieht. Außerdem wird das Krankengeld gesenkt und der Kigenanteil für Medikamente erhöht. Die Arbeitslosenunterstützung wird künftig erst nach Vollendung des 20. Lebensjahres gewährt. Damit sollen zusammen mit Kürzungen bei den Ausgaben für die Entwicklungshilfe, das Schulwesen und das Militär 31,5 Milliarden Schilling eingespart werden. Trotz dieser umstrittenen Maßnahmen wird das Defizit des schwedischen Staatshaushaltes 1995/96 nicht weniger als 355 Milliarden Schilling betragen. Schweden muß für seine Schulden bis Ende 1996 188 Milliarden Schilling für Zinsen aufbringen.

Belgien, das mit 135 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) noch vor Griechenland und Schweden die höchste Staatsverschuldung in der EU aufweist, hat nach äußerst heftigen Auseinandersetzungen einen „Globalplan” verabschiedet, der unter anderem neben massiven Steuererhöhungen (Mehrwertsteuer, Quellensteuer, Abgaben auf Zigaretten und Treibstoff, Sondersteuer für Unverheiratete und kinderlose Ehepaare, Immobiliensteuer) Kürzungen bei Kinderbeihilfe, Arbeitslosenunterstützung, im Gesundheitswesen und bei Pensionen von insgesamt 26 Milliarden Schilling vorsieht

Aber auch in allen anderen Ländern - West und Ost - wird gespart. Die Palette reicht von der Erhöhung des Pensionsalters (Tschechien, Italien) über die Abschaffung von Feiertagen (Deutschland) bis zur Einschränkung der Arbeitslosenunterstützung durch Karenztage (Schweiz) und zur Straffung des Beamtenapparates (Großbritannien, Spanien).

Osterreich ist vom schwedischen, belgischen oder italienischen Schuldendilemma noch weit entfernt, doch sind mit dem Budgetdefizit von über 100 Milliarden und einem Lei-stungsbilanzpassivum von geschätzten 25 Milliarden Schilling Hochwassermarken erreicht, die zum Handeln zwingen.

Wie konnte es dazu kommen? Die Antwort ist einfach: Die Sozialpolitik orientiert sich schon lange nicht mehr an der tatsächlichen Bedürftigkeit der Transferbezieher, sondern -wie es von der Nationalen Armutskonferenz Deutschlands gefordert wird - an „dem, was ein Mensch braucht, um am gesellschaftlichen Leben vernünftig teilnehmen zu können” (Erika Blehn in „Die Zeit” 11/93). Wenn sich nun dieser Anspruch am landesüblichen, in den letzten Jahrzehnten erfreulicherweise stark gestiegenen Lebensstandard mißt, nähert sich die Zahl der Nutznießer der Fünfzigprozentmarke. Steuerzahler und Begünstigte werden weitgehend identisch. Das Geld fließt dann - von der Bürokratie zum Teil abgezapft - im selben Anzug von einer Tasche (Steuerbelastung) in die andere (Transferleistung, siehe Furche Nr. 35/1994).

Eine Kontrolle der sich immer weiter drehenden Spirale der Umverteilung wird nahezu unmöglich.

Obwohl Schulden gemacht werden, können nicht alle Anspruchsberechtigten in den Genuß der Zuwendungen kommen. Eine Gleichheit der Bürger ist nicht mehr gegeben. Politischer Einflußnahme, Willkür und Korruption werden Tür und Tor geöffnet. Der scheinbare Anspruch des einzelnen ergibt sich dann nicht aus seiner Bedürftigkeit; er glaubt vielmehr, daß er unabhängig von Einkommen und Besitzstand ein Recht auf staatliche Unterstützung habe, da er ohnedies hohe Steuern und Pflichtbeiträge zahle.

Schließlich sehen die Bürger mögliche finanzielle Schwierigkeiten nicht mehr als ihr eigenes Problem an, sondern als das des Staates. Dadurch wird die Leistungsbereitschaft untergraben, es fehlen aber auch die Mittel, um den wirklich Hilfsbedürftigen das Notwendige zu geben. So kommt es, daß der pensionierte Generaldirektor oder aktive Ministerialrat mit staatlichem Zuschuß regelmäßig auf Kur geht, während der 30jährige Familienvater, der durch einen Schlaganfall arbeitsunfähig geworden ist, kaum das nackte Leben bestreiten kann. Kurzsichtige Sozialpolitik läßt überdies die oft erheblichen Nachteile außer Betracht, die als Folge an sich wünschenswerter Maßnahmen entstehen: so bedeuten hohe öffentliche Schulden, die für soziale Aufwendungen gemacht werden, einen Vorgriff auf Leistungen, die kommende Generationen erbringen müssen. Gerade Familienverbände sollten hier auch die Interessen der Kinder, die für die Schulden einmal gerade stehen müssen, im Auge haben. Gesetzliche Mindestlöhne führen zum Verlust von Arbeitsplätzen, wenn sich die Arbeitskosten nicht rechnen. Großzügige Karenzregelungen haben zur Folge, daß bei der Einstellung junger Frauen größere Zurückhaltung geübt wird. Gesetzliche Mietenregelungen nützen nicht, wenn sich die Vermietung nicht lohnt...

Die Antwort auf die Überforderung der Öffentlichen Hand ist eine sozialverträgliche Reform des Wohlfahrtsstaates. Darunter darf nicht die Umverteilung als Wert an sich verstanden werden. Er muß vielmehr die Solidarität für Bedürftige unter Wahrung des Bechtes auf Ungleich-' heit zum Ziele haben.

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