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Ein Vertrag mit vielen Tuchen

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Auf den ersten Blick erscheint Schengen für die Bürger der beteiligten Länder sehr attraktiv. Die Grenzkontrollen und teilweise stundenlangen Wartezeiten an den Grenzen ließen in der Vergangenheit viele EU-Bürger am gemeinsamen Europa zweifeln. Durch Schengen ist damit Schluß. Auch die engere polizeiliche Zusammenarbeit, die Etablierung des Schengener Sicherheitssystems (SIS) und die genaueren Kontrolle an den Schengen-Außengrenzen stoßen bei der europäischen Bevölkerung generell auf breite Zustimmung. Ein durch und durch gelungener Schritt zu einem grenzenlosen Europa also? -Die Tücken liegen auch in diesem Fall im Detail und sind deshalb der breiten Öffentlichkeit großteils verborgen geblieben. .

Ausserhalb der EU

Formal betrachtet liegt Schengen komplett außerhalb der EU-Strukturen. Es gibt also weder eine Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof, noch durch das Europäische Parlament - dies ist das vielzitierte „Demokratiedefizit” Schengens. Diese

Die Gefahr, daß das

Europa ohne Grenzen im Ansatz stecken bleibt, besteht. Die politische Zusammenarbeit der einzelnen Länder ist mühsam. unbefriedigende Situation sollte bald zu Ende sein, denn die EU-Länder bemühen sich, bei den derzeit laufenden Verhandlungen über die institutionelle Beform der Union („Maastricht II”), Schengen in die EU-Strukturen einzubinden. „Flexibilität” heißt das Zauberwort, das es ermöglichen soll, daß diejenigen Länder, die schneller eine tiefere Integration in manchen Bereichen wünschen, gemeinsam voranschreiten können, ohne auf Länder, die dies (noch) nicht wollen, warten zu müssen.

Problemländer

Daß England und Irland bei der endgültigen Abschaffung von Grenzkontrollen in absehbarer Zukunft nicht mitziehen wollen, ist aufgrund der geographischen Lage dieser beiden Länder kaum ein Problem für das restliche Europa. Probleme wird es allerdings mit den skandinavischen Ländern, Griechenland und den beitrittswilligen Staaten Mittel- und Osteuropas geben.

Griechenland

Die Griechen haben am 6. November 1992 die Schengener Verträge unterzeichnet und streben, Zumindestens langfristig, ebenfalls eine Abschaffung der Grenzkontrollen bei Sehen-gen-Binnenflügen an. Solange die Griechen bei den Sicherheitsinstitutionen Schengens (vor allem dem SIS) mittun, sind sie den anderen Schengen-Ländern natürlich willkommen. Zu einer Abschaffung der Grenzkontrollen bei Flügen zwischen Schengen-Ländern und Griechenland wird es aufgrund der geographischen Lage Griechenlands in absehbarer Zeit jedoch nicht kommen, auch wenn die griechische Regierung das wünscht.

Skandinavien

Die skandinavischen Staaten (Dänemark, Island, Finnland, Norwegen und Schweden) haben 1957 die Nordische Paßkontroll-Konvention unterzeichnet, die die Personenkontrollen zwischen diesen Ländern praktisch aufgehoben hat. Um diesen grenzfreien Raum in Skandinavien nicht aufzugeben, haben Schweden und Finnland bislang gezögert, voll beim Schengen-Prozeß einzusteigen, denn mit einem Schengen-Beitritt müßten diese beiden Länder wieder Kontrollen an ihren Grenzen mit Norwegen einführen. Die Schengen-Länder planen sogenannte Kooperationsübereinkommen mit Island und Norwegen, die aber aufgrund verschiedenster rechtlicher Schwierigkeiten noch nicht beschlossen wurden.

Für die nächsten Länder, die der EU beitreten werden (Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien) scheint klar, daß von ihnen eine Mitarbeit bei der polizeilichen Zusammenarbeit im Rahmen Schengens genauso wie Kooperation in den Bereichen Asyl und Migration erwartet wird, ohne daß aber für sie die Abschaffung der Grenzen zur jetzigen EU in absehbarer Zukunft überhaupt erwogen wird.

Ungleiche Verteilung der Lasten Einer der Hauptkritikpunkte bei Schengen betrifft die ungleiche finanzielle Belastung der beteiligten Länder. Die Schengen-Länder konnten sich zwar auf gemeinsame Mindeststandards beim Grenzschutz der Schengen-Außengrenzen einigen, der Grenzschutz selbst bleibt aber nach wie vor Aufgabe der betreffenden

Staaten. Während Schengen also für manche Staaten eine drastische Verminderung ihrer Aufwendungen für Grenzkontrollen bedeutete (Belgien, Frankreich, Luxemburg, Niederlande) trifft dies für andere Staaten (Deutschland, später Osterreich, Itali en, und weitere Staaten, die eine EU-Außengrenze haben) nicht zu.

Einwanderung und Asyl Daß der Wegfall von Grenzkontrollen, auch eine vermehrte polizeiliche Zusammenarbeit (vor allem mittels des SIS) erforderte, war und ist unumstritten. Schlußendlich erfordert ein grenzfreier Baum mehrerer Staaten aber auch eine gemeinsame Visa-und Einwanderungspolitik. Bei kurzfristigen Visa (bis drei Monate) konnten sich die

Schengen-Staaten relativ leicht auf eine Liste von Ländern einigen, für die solche Visa notwendig sind; ausgestellt werden sie, im Einklang mit gemeinsam festgelegten Begeln, von den jeweiligen nationalen Konsulaten.

Das Becht längerfristige Visa auszustellen, bleibt nach wie vor den einzelnen Staaten vorbehalten. Da aber alle Schengen-Staaten eine ähnliche Einwanderungspolitik verfolgen, nämlich möglichst keine Einwanderung zuzulassen, gab es auch in diesem Bereich kaum Schwierigkeiten.

Beim Versuch zu einer gemeinsame Asylpolitik zu finden, haben die Schengen-Länder jedoch genauso versagt, wie die EU insgesamt. Der diesbezügliche Vertragstext von Schengen ist praktisch ident mit der Dubliner EU-Konvention (noch nicht inkraft), und wird obsolet, sobald die Dubliner Konvention in Kraft tritt. Obwohl in beiden Texten langfristig eine Harmonisierung .der nationalen Asylpolitiken angestrebt wird, sind die verbindlichen Begeln äußerst bescheiden: es wird lediglich genau bestimmt, welches EU-Land für die Behandlung eines Asylantrags zuständig ist, um zu vermeiden, daß Asylsuchende von Staat zu Staat abgeschoben werden („refugees-in-orbit”), weil sich keiner für den Asylantrag zu -ständig fühlt, und um Mehrfachanträge von vornherein zu unterbinden. Das hat zuerst einmal die Chancen von Asylsuchenden, in Europa tatsächlich Asyl zu erhalten, deutlich verringert. Die ebenfalls in Schengen beschlossenen „carrier-sanctions” (Bestrafung von Fluglinien, die Personen ohne Visa oder mit falschen Pa-. pieren befördern) haben es Flüchtlingen praktisch verunmöglicht, mit dem Flugzeug in die EU zu gelangen.

Schengen (und Dublin) machen alleinig den EU-Staat für die Behandlung des Asylantrags verantwortlich, über den ein Asylsuchender in die EU einreist. Länder mit einer EU-Außengrenze werden also übermäßig belastet, während EU-Binnenländer praktisch keine Asylanträge mehr behandeln müssen. Vom hehren Ideal in der Präambel der Dublin-Konvention, zu einer gemeinsamen Asylpolitik zu kommen, ist man also weiter weg als zuvor. Zyniker werden sagen, daß es eine erneute Flüchtlingswelle in Europa brauchen wird, damit sich die EU-Staaten auf eine gemeinsame Lösung dieses Problems einigen werden können.

Schengen wurde 1985 mit der Vision begonnen, die Grenzen zwischen den integrationsfreudigen EU-Staaten in Mitteleuropa abzuschaffen. Dieses Ziel eines Europas ohne Grenzen ist aber nicht erst durch Schengen proklamiert worden, sondern findet sich ansatzweise auch schon in den Börner Verträgen (1957), ausdrücklich jedoch in der Einheitlichen Europäischen Akte (1987) und im Maastricht-Vertrag (1993). Die Gefahr, daß das Europa ohne Grenzen im Ansatz stecken bleibt, ist zweifellos gegeben.

Wie Schengen gezeigt hat, ist die notwendige Zusammenarbeit bei polizeilichen und gerichtlichen Fragen relativ leicht zu organisieren. Was' aber die politische Zusammenarbeit, vor allem beim Asylrecht, betrifft, gibt es noch massive Probleme, die nicht so schnell beseitigt werden können.

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