Eine Auslauftechnologie

19451960198020002020

Umweltfreundlich und sicher seien AKW heute, hört man immer wieder. Über den heutigen Stand der Dinge ein Gespräch mit dem Risikoforscher Kromp.

19451960198020002020

Umweltfreundlich und sicher seien AKW heute, hört man immer wieder. Über den heutigen Stand der Dinge ein Gespräch mit dem Risikoforscher Kromp.

Werbung
Werbung
Werbung

dieFurche: Hat die Atomindustrie viel aus Tschernobyl gelernt? Hat sich seither die Sicherheit der AKW verbessert?

Wolfgang Kromp: Man verfügt über einiges Wissen über die Versagenswahrscheinlichkeit der einfachen Elemente eines AKW (Schrauben, Muttern, Schweißnähten, Pumpen ...). Mit logischen Methoden kann man deren Funktion und Versagenswahrscheinlichkeit verknüpfen, um die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines übergeordneten Problems zu bestimmen. Bei einem Kernkraftwerk geht es darum die Wahrscheinlichkeit des Auftretens der gefürchteten Kernschmelze zu eruieren. Sie führt letztlich zum Aufbrechen der Umhüllung. Dann werden die Schadstoffe in Form stark radioaktiver Wolken frei. Dieses Ereignis gilt es, unter Aufbietung aller Mittel zu verhindern.

dieFurche: Mit welcher Wahrscheinlichkeit tritt ein solches Ereignis ein?

Kromp: Wenn man solche Wahrscheinlichkeitsketten zusammenführt, kommt man zu Werten, die im Durchschnitt bei eins zu 10.000 bis 100.000 pro Jahr laufender Anlage liegen. Das heißt: Alle 10.000 bis 100.000 Betriebsjahre muß man mit dem Eintritt einer Kernschmelze rechnen. Das besonders Unschöne daran ist, daß dieses Ereignis nicht erst am Ende dieser Periode, sondern auch zu deren Beginn eintreten kann. Habe ich nun 100 Kernkraftwerke, so ist der Eintritt einer Kernschmelze 100mal so wahrscheinlich.

dieFurche: Ist die Gefährdung der Reaktoren sehr unterschiedlich?

Kromp: Es gibt etwa 440 Kernkraftwerke. Die schlechtesten haben eine Unfallwahrscheinlichkeit von eins zu 1.000, die besten eins zu 100.000. Manche behaupten auch mit eins zu einer Million. Dazu ist allerdings zu sagen, daß bestimmte Einflußgrößen, obwohl man sie heute schon modellieren kann, in älteren Analysen aus Zeit- und Kostengründen nicht in die Berechnungen einbezogen wurden. Dies gilt teilweise sogar für so wichtige Faktoren wie Brandursachen. Von außen kommende Gefahren lassen sich modellmäßig schwer erfassen, ebenso die Werkstoffalterung. Noch schwerer hat man es bei den Mensch-Maschine-Interaktionen. Daher ist das Risiko noch viel schlimmer, als es durch die oben erwähnten Zahlen ausgedrückt wird.

dieFurche: Wie schätzen Sie derzeit die Unfallwahrscheinlichkeit ein?

Kromp: Beim derzeitigen Stand kommt man je nach Einschätzung zu dem Ergebnis, daß eine Kernschmelze alle 100 Jahre (das ist die optimistische Version) bzw. alle paar Jahre (die pessimistische) eintritt. Die letztere Einschätzung hat sich bisher eher bewahrheitet, wie die offiziell bekanntgewordenen Kernschmelzen untermauern: Three-Mile-Island 1979, Tschernobyl 1986, St. Petersburg 1992. Nicht jeder Fall ist so dramatisch wie Tschernobyl. Es kann wie in Three-Mile-Island - dort mit sehr viel Glück - gelingen, den Großteil der Stoffe innerhalb des Sicherheitsbehälters zu halten.

dieFurche: Hat man also viel aus dem Tschernobyl-Unglück gelernt?

Kromp: Ein großer Lernprozeß fand schon mit Three-Mile-Island statt. Auch nach Tschernobyl hat man dazugelernt. Das nachträgliche Hinzufügen von Sicherungselementen ist jedoch nur in begrenztem Ausmaß erfolgreich. Ich sehe das vor allem auch von der Warte der Werkstoffe, die mein Spezialgebiet sind. Man hat die Fähigkeiten der Werkstoffe überschätzt. Manches, was im Labor funktioniert, spießt sich in der rauhen Wirklichkeit. Vieles, was die Werkstoffe gut und edel gemacht oder als Verunreinigung nicht weiter gestört hat, erwies sich als schlecht: Kobalt, Kupfer, Schwefel ... Diese zu ersetzen oder zu eliminieren, brachte neuartige Probleme, deren Lösung vielfach hinter dem praktischen Einsatz herhinkte. Oft erwachsen auch Kosten, die vielfach zu hoch erscheinen. Die erwähnten probabilistischen Analysen (Wahrscheinlichkeits-Analysen; Anm. d. Redaktion) waren sicherlich sehr wertvoll, auch wenn ihr Gesamtergebnis absolut betrachtet eher "Hausnummern" liefern. Ihr Wert liegt in Relativbetrachtungen. Sie ermöglichen vor allem den Vergleich von Anlagen, was ihre Stärken und Schwächen anbelangt. Auch kann man innerhalb einer Anlage besonders kritische Bereiche erkennen.

dieFurche: Insgesamt also eine Erhöhung der Sicherheit?

Kromp: Es gibt auch gegenläufige Tendenzen: Derzeit werden kaum neue Reaktoren gebaut, am ehesten noch in Asien und im ehemaligen Ostblock. Die laufenden AKW altern also in ihrer Gesamtheit. Das bezieht sich sowohl auf die Anlage wie auf die Leute, die dort arbeiten. Auf einer OECD-Konferenz vor 1,5 Jahren in Paris wurde sehr darüber geklagt, daß viele Kernforschungsabteilungen von Universitäten zugesperrt werden und daß es kaum Nachwuchs auf diesem Sektor gibt. Man überlegt "Schnellsiederkurse". Auch wollen verschiedene Firmen keine Ersatzteile mit teurer "Atomqualität" auf Lager legen oder produzieren. Es gibt also einen Engpaß in der Versorgung. Dabei wird sich der Aufwand bei den alternden Kraftwerken erhöhen.

dieFurche: Welche Lebensdauer hat ein Reaktor?

Kromp: Etwa 40 Kalenderjahre sollten die Anlagen in Betrieb sein. Derzeit hat in den USA bereits eine "Götterdämmerung" der Kernkraftwerke eingesetzt. Sie werden oft auch ohne spektakulären Grund abgeschaltet. Diese subventionsträchtige Technologie hält sich einfach nicht auf einem liberalisierten Energiemarkt unter den Bedingungen der Privatisierung. Zusammenfassend: Diese Technologie betrachte ich als Übergangstechnologie. Wohl etabliert kann sie zwar nicht schlagartig eliminiert werden. Dazu erzeugt sie zu viel Strom. Man muß schauen, daß man sie sanft entschlafen läßt. Es ist eine Auslauf-Technologie.

dieFurche: Man hört Atomstrom sei umweltfreundlich. Wie sehen Sie das?

Kromp: Man darf bei der Beurteilung dieser Frage nicht darauf vergessen, daß die Kraftwerke ja auch gebaut werden müssen. Und auch der Brennstoffzyklus ist energieintensiv. Nur der isoliert betrachtete Energieerzeugungsprozeß im AKW trägt nicht zum Treibhaus-Effekt bei. Jedenfalls ist die Atomtechnologie eine besonders "harte", energieintensive Technologie, die besonders großer Mengen an Stahl und Beton bedarf.

dieFurche: Wie steht es mit der Endlagerung der Brennstoffe?

Kromp: Da gibt es nach wie vor keine Lösung. Ursprünglich hat man das viel einfacher gesehen. Durch Wiederaufbereitung wollte man aus dem Brennstoff vieles wieder herausholen. Danach sollte hochaktiver Müll nur in relativ kleinen Volumina anfallen. Die Wiederaufarbeitung ist aus zwei Gründen nicht populär: Sie ist einerseits mit erhöhtem Risiko verbunden und andererseits braucht man das anfallende Plutonium seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr für Atomwaffen. Daher geht es heute darum, die verbrauchten Brennstäbe, so wie sie sind endzulagern. Das ist sehr aufwendig, um die anfallenden großen Volumina zu bewältigen. Derzeit gibt es keine befriedigende Langzeitlösung, sondern man setzt auf Zwischenlagerungen für 20 bis 40 Jahre. Das ungelöste Problem weiterer Obsorge wird künftigen Generationen überantwortet.

Univ. Prof. Wolfgang Kromp ist am Institut für Risikoforschung der Universität Wien tätig.

Mit ihm sprach Christof Gaspari.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung