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Eine Idee, die die Welt erobert hat

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Im Jahr 1949 gründete Hermann Gmeiner das erste SOS-Kinderdorf in Imst in Tirol. Sein Konzept war im Grunde genommen die Verwirklichung einer naheliegenden Idee: Kindern, die verlassen oder verwaist waren, jene Geborgenheit zu bieten, die in Kinderheimen meist nicht erlebt werden kann, weil dort die dauernde Bezugsperson für das Kind fehlt. Auf vier Prinzipien baute Gmeiners Konzept der Kinderbetreuung auf:

■ Jedes Kind bekommt im Kinderdorf eine SOS-Mutter, die zu seiner ständigen Bezugsperson wird. Diese führt ihren Haushalt selbständig und kennt dieselben Sorgen, Pflichten und Freuden wie jede andere Mutter.

■ Sie zieht allerdings mehr Kinder auf, als Mütter dies sonst im allgemeinen tun, nämlich mindestens sechs bis acht gleichzeitig. So wachsen die Kinder mit „Geschwistern" auf, wobei darauf geachtet wird, daß leibliche Geschwister, die ins Kinderdorf kommen, nicht getrennt werden.

■ Jede Familie lebt in einem eigenen Haus. Dieses wird zum neuen bleibenden Daheim des Kindes. Der soziale Mittelpunkt des Hauses ist der Wohn-Eßraum. Die SOS-Mutter hat ein eigenes Zimmer, während sich die Kinder zu dritt oder viert eines teilen.

■ Diese Familien leben nicht allein, sondern in Kinderdörfer, die jeweils zehn bis 20 Familienhäuser beherbergen und meist in der Nähe einer Stadt oder eines größeren Ortes liegen. Die Bewohner der Kinderdörfer sollen auch in das Leben der größeren Gemeinschaft eingebunden werden.

Die Kinder bleiben solange im Dorf, bis sie in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Während ihrer Lehr- oder Studienzeit können sie in Jugendhäuser, die von den Kinderdörfern eigens für diese Altersgruppe eingerichtet werden, übersiedeln.

Diese Art der Betreuung von Kindern war von Anfang an ein durchschlagender Erfolg. Nachdem es zunächst in Österreich zur Gründung weiterer Kinderdörfer gekommen war, wurde das Modell alsbald expor-

tiert. 1955 kommt es zur Gründung der „SOS-Kinderdorf e.V." in München und 1956 wird der französische Verein „Association Villages d'enfants sos" ins Leben gerufen. Seither hat sich die Idee über die ganze Welt verbreitet.

Ende 1994 gab es 326 SOS-Kinderdörfer in 124 Ländern auf allen Kontinenten außer Australien. In ihnen wachsen derzeit etwas mehr als 29.000 Kinder auf, wobei darauf geachtet wird, daß sie in ihrer jeweiligen Beli-glon und Kultur erzogen werden.

Die Kinderdorf-Idee hat sich jedoch nicht nur räumlich verbreitet, sie wurde auch um weitere Angebote für Kinder erweitert. So entstanden SOS-Kindergärten und Jugendeinrichtungen. Medizinische, Sozial-, Ausbildungsund Produktionszentren sorgen im außereuropäischen Ausland für die Förderung der Bevölkerung, die in der Umgebung von SOS-Kinderdörfern lebt. So stehen Schulen und Kinder-

gärten also nicht nur den SOS, sondern auch den Kindern und Jugendlichen

aus der Nachbarschaft zur Verfügung. In diesen Einrichtungen wird eine solide Ausbildung in jenen Berufen vermittelt, die auf dem nationalen Markt gesucht sind. Zählt man alle SOS-Einrichtungen zusammen, so kommt man weltweit auf die beachtliche Zahl von über 1250. In ihnen werden insgesamt 153.000 Kinder betreut. Welch großartiger Erfolg einer österreichischen Idee!

Klarerweise erfordert ein derartig großes Werk auch beachtliche materielle Aufwendungen. 1993 war zur Erhaltung all dieser Einrichtungen und für die notwendigen Investitionen ein Budget von 374 Millionen Dollar, das sind rund 3,8 Milliarden Schilling erforderlich. Etwas mehr als die Hälfte dieses Betrages wird durch lokale SOS-Mitglieds- und Fördervereine aufgebracht. Und diese Mittel wiederum stammen zu einem sehr hohen Prozentsatz (etwa zu vier Fünfteln) aus nur drei Ländern: Österreich, Deutschland und Frankreich.

Österreich gehört somit zu jenen Ländern, die das SOS-Kinderdorf-Anliegen besonders stark unterstützen.

Allerdings geschieht dies überwiegend in Form von Unterstützungen für die österreichische Kinderdörfer. Eine besonders attraktive Form, diese Hilfsbereitschaft auch für die außereuropäischen Projekte zu mobilisieren, ist das Angebot, Patenschaften zu übernehmen.

Das kann in mehreren Formen geschehen, etwa in Form einer Kinder-Patenschaft: Mit einem monatlich zu zahlenden Betrag von 300 Schilling wird ein Kind unterstützt. Der Pate erfährt dessen Namen, Lebensgeschichte und Adresse. Er kann mit dem Kind in direkten Kontakt treten. Meist geschieht dies brieflich.

Es kommt aber immer wieder auch vor, daß Paten ihre Schützlinge besuchen fahren. Den Kindern wird damit die Erfahrung vermittelt, daß irgendwo in der Welt jemand sich Gedanken über sein Gedeihen macht. Die Paten ersetzen dem Kinderdorf-Kind ein bißchen das, was für Kinder aus normalen Familien Onkeln und Tanten sind. Da man mit einem Patenschaftsbeitrag allein kein Kind erhalten kann, wird versucht, für ein Kind jeweils mehrere Paten zu gewinnen.

Weiters ist es möglich, eine Dorf- oder eine Schul-Patenschaft zu übernehmen. Der Dorfpate unterstützt mit einem monatlichen Beitrag von 200 Schilling ein bestimmtes SOS-Kinder-dorf in der Welt. Dieses verwendet die Mittel nach eigenem Bedarf. Eine Schulpatenschaft (250 Schilling) wiederum gibt die materielle Grundlage dafür ab, daß Kinder aus der Nachbarschaft des Dorfes die Schule besuchen können.

Weltweit gibt es derzeit 130.000 solche Patenschaften. Eines der vielen Kinder, die noch keinen Paten hat, ist Ana de Lemos Duarte aus dem SOS-Kinder-dorf Maputo in Mocambique. Sie ist sechs Jahre alt. Über ihre Eltern ist nichts bekannt. Sie ging ihrer Mutter verloren, als sie mit ihr zum Einkaufen unterwegs war. Ein mitleidiger Mann gab das verlassene und verschüchterte Mädchen in einem staatlichen Waisenhaus ab. Da man die Mutter trotz intensiver Nachforschungen nicht ausfindig machen konnte, wurde die Aufnahme des Kindes in das SOS-Kinderdorf, wo sie derzeit lebt, beantragt.

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