"Entdecken, was mir möglich ist" "

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Die Grenzen zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung haben sich aufgelöst. Die Katholische Erwachsenenbildung hat sich bereits darauf eingestellt.

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Die Grenzen zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung haben sich aufgelöst. Die Katholische Erwachsenenbildung hat sich bereits darauf eingestellt.

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Walter ist Schilehrer in einem Tiroler Tourismusort und seit Mitte September als einer von 13 "orangen Taxlern" im ganzen Land bekannt. Als Geschenk für 75 Tage durchhalten in der ORF Reality Soap "Taxi Orange" hat er sich einen Rhetorikkurs gewünscht und bekommen.

"Was braucht ein Schilehrer einen Rhetorikkurs?" mag sich so mancher gefragt haben. Da Abschlussevents von Reality Soaps nicht für Hintergrundgespräche geschaffen sind, haben wir über Walters tatsächliche Motivation nichts erfahren und können so allerlei Mutmaßungen anstellen.

Walter, so eine Annahme, ist einer von mehreren - in ihrer individuellen Ausprägung natürlich recht unterschiedlichen - typischen jungen Österreicher/innen. Das trifft vermutlich auch für sein Bildungsverhalten zu. Auch auf die Gefahr von Oberflächlichkeit und Kurzschlüssigkeit hin könnte sein Wunsch demnach sowohl als Indiz für den Abschied von der sogenannten Normalbiographie sein - vielleicht will Walter eben nicht sein Leben lang Schilehrer bleiben. Es könnte aber auch als Hinweis auf die Auflösung der Grenzen zwischen beruflicher Fortbildung und allgemeinbildender Erwachsenenbildung interpretiert werden.

Manager des Lebens Die Auskunft, dass er - wie offensichtlich auch alle seine Kollegen und Kolleginnen - in der gemeinsamen Zeit im Kutscherhof "unheimlich viel gelernt hat", trifft sich zudem mit einem Bildungsverständnis, das davon ausgeht, das Bildung ohnehin ständig passiert und sich die Strukturen, in denen wir lernen längst aus den - meist aus der Schule - bekannten Formen "hier Input, da Output", herausgelöst haben.

Die Menschen des anbrechenden 21. Jahrhunderts sind als "Lebensunternehmer und Unternehmerinnen", so der Schweizer Zukunftsforscher Christian Lutz, gefordert, die eigene Wirklichkeit zu gestalten. Gemeint ist damit die Einstellung, sich für das eigene Leben wie für ein Unternehmen verantwortlich zu fühlen. Vorbei sind die Zeiten, in denen sich Menschen mit einer eindimensionalen Berufslaufbahn zufrieden gaben. Immer mehr setzt sich als gesellschaftlicher Konsens die Überzeugung durch, dass es notwendig geworden ist, das eigene Leben selbst in die Hand zu nehmen und - ähnlich einem Unternehmen - selbst zu managen. Das vielzitierte Postulat vom "lebenslangen Lernen" wird dabei zur unvermeidlichen Selbstverständlichkeit und verliert so etwas vom möglicherweise bedrohlichen Charakter des "Lebenslänglichen".

Was zunächst recht banal klingen mag, erweist sich auf den zweiten Blick als zentrale Herausforderung für die Bildungsarbeit der Gegenwart und Zukunft.

Bildung als Befähigung zur Lebensgestaltung kann kein Lernen auf Vorrat sein. Vielmehr muss sie, wie Karl Mittlinger, Direktor des steirischen Bildungshauses Mariatrost, es ausdrückt, "punktgenau" sein. "Wenn ich bei einem bestimmten Punkt angekommen bin, kann ich lernen diesen Punkt zu bewältigen, mit Neugier, Motivation und Kritikfähigkeit!"

Aufgabe von Bildungseinrichtungen wird es zukünftig also vor allem sein, Bildungserfahrungen zu bündeln, Orte des Austauschs, der Reflexion und der Begleitung zu schaffen und Bildungsentwicklungen somit eine Richtung zu geben.

Die Grenzen zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung, aber auch die Grenzen zwischen Bildungs- und Kultur- beziehungsweise Gemeinwesensarbeit haben sich praktisch längst aufgelöst. Wir erwerben Qualifikationen für Tätigkeiten, die nichts mit unserer Erwerbsarbeit zu tun haben und nutzen Kompetenzen aus dem Bereich der Persönlichkeitsbildung verstärkt im Berufsleben, wir eignen uns spezielle Fähigkeiten an, um ein bestimmtes Projekt mitzugestalten und machen im Tun des gesellschaftlichen Engagements Lernerfahrungen, die auch in anderen Bereichen nützlich sind.

"Entdecken was mir möglich ist" lautet der Leitspruch des Ausbildungsinstituts für Erwachsenenbildung, einer Einrichtung des Forums Katholischer Erwachsenenbildung, das Lehrgänge für in unterschiedlichen Feldern der EB Tätige anbietet. Christine Bischur, Mitarbeiterin des Instituts betont in diesem Zusammenhang die Subjektorientierung der Ausbildungsangebote, aber auch deren klare Wertorientierung, "die auf Offenheit, Solidarität und Toleranz" basiert. "Das beste Handwerkszeug der ErwachsenenbildnerInnen sind sie selber, das müssen sie pflegen und hegen, nähren und abschleifen.Damit ist vor allem ein hoher Anspruch an eine bestimmte Haltung verbunden."

Brüchige Identitäten Was für die Ausbildung von in der EB Tätigen gilt, lässt sich auf alle Lernenden übertragen. In einer Zeit, in der brüchige Identitäten und eine sich ständig verändernde Wirklichkeit längst zum "Normalen" geworden sind, gilt es, in Auseinandersetzungen mit anderen Menschen, mit Theorien und mit der Welt, in der wir leben, das eigene Potential wahrzunehmen, zu heben und weiterzuentwickeln.

Als "Lebensunternehmer/in" gilt es vor allem den Umgang mit Veränderungen und mit der vor allem von Ökonomie und Arbeitsmarkt geforderten Flexibilität zu erlernen. Gefordert sind neue Orientierungs-, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeiten, aber auch Systemdenken und ein kritischer Blick auf Strukturen, die möglicherweise Lebensqualität - die eigene oder die von anderen - verringern und nach widerständigem oder zumindest veränderndem Handeln verlangen.

Kohärenz - die Fähigkeit, das eigene fragmentierte Leben zusammenzuhalten, die Auflösung althergebrachter Rollen und das Leben mit brüchiger Identität auszuhalten und auch in existenziellen Krisenzeiten Halt und Sinn nicht zu verlieren, wird zur zentralen Lebenskompetenz, auch für den Umgang mit Differenzen.

"Lernen findet vor allem als soziales Lernen statt und passiert hauptsächlich durch Differenzerfahrungen", formulierte der deutsche Professor für Erwachsenenpädagogik Horst Siebert kürzlich auf einem Symposion zur Theorie der Erwachsenenbildung. So sehr das "biographische Gepäck" auch zwangsläufig im Lernprozess enthalten sei, greife ein "personaler Lernbegriff" heute dennoch zu kurz. "Vielmehr muss es darum gehen, die Fülle des gesellschaftlich verfügbaren Wissens für gesellschaftliche Veränderungen nutzbar zu machen."

Veralteter Lernbegriff Erwachsenenbildung als Identitätsarbeit, die zur Lebensgestaltung befähigt, muss dabei, so der Freiburger Religionspädagoge Professor Werner Tzscheetzsch im Rahmen des Symposions, "das Erlernen sozialer Kreativität" fördern. "Das bedeutet die Gestaltung unserer Welt im eigenverantwortlichen Zugriff und Freisetzen von Potentialen."

"Lern-Erfolg" lautete das Motto der vom Bildungsministerium initiierten österreichweiten "Infotage der Weiterbildung" im Herbst dieses Jahres. Katholische Erwachsenenbildungseinrichtungen haben dabei die drohende Engführung und immer stärkere Koppelung von Bildung auf Ansprüche des Arbeitsmarkts kritisiert und die Notwendigkeit der Förderung von Kompetenzen zur Lebensgestaltung, wie sie unter anderem katholische Bildungsangebote zum Ziel haben, unterstrichen.

In diesem Sinne wollen Vorträge, Workshops und Diskussionsveranstaltungen der Bildungswerke Orientierung in konkreten Lebensfragen und der Gestaltung familiärer Beziehungen geben, vermitteln Frauenseminare unterschiedlicher katholischer Einrichtungen Frauen Veränderungswissen als Rüstzeug zum eigenständigen und solidarischen Handeln. In den Fernkursen des literarischen Kurses wird das Einüben in unterschiedliche Perspektiven und der Umgang mit unterschiedlichen Lebensentwürfen über die Auseinandersetzung mit Literatur eingeübt. Eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Christentum, wie sie die Theologischen Kurse anbieten, hilft die kulturell-religiösen Wurzeln der europäischen Gesellschaft zu verstehen und sich im Dickicht zunehmender Sinnangebote kritisch zu orientieren. Politische Bildungsangebote der Katholischen Sozialakademie schärfen den Blick für wirtschaftliche und sozialpolitische Zusammenhänge und stärken die eigene Handlungsfähigkeit.

"In einer zunehmend mobilen und flexiblen Gesellschaft sind Selbstorganisation und Entscheidungskompetenz zu unverzichtbaren Qualifikationen nicht nur für den Arbeitsmarkt, sondern für die gesamte Gestaltung des Lebens geworden", beschreibt Gabriele Lindner von der Katholischen Sozialakademie Herausforderungen für heutige Bildungsarbeit. "Diese Kompetenzen können nicht aus Büchern gelernt, sondern müssen gemeinsam eingeübt werden. Langjährige Erfahrungen aus unserem dreimonatigen Kurs für Politik, Wirtschaft und Ethik zeigen den Nutzen von intensiven und selbstorganisierten Lernprozessen für Angehörige aller Bevölkerungsschichten."

Allen Bildungsangeboten, vom Sprachkurs übers gemeinsame Singen bis hin zu Grundkursen für Politische Bildung, muss es also zentral um die Vermittlung von Kompetenzen zur Lebensbewältigung gehen, wie der deutsche Sozialpsychologe Heiner Keupp, die Gewinnung von Lebenssouveränität als zentrales menschliches Grundbedürfnis knapp umschreibt.

Da kann auch ein Schilehrer einen Rhetorikkurs unter Umständen gut gebrauchen ...

Die Autorin ist im Forum Katholischer Erwachsenenbildung in Wien für Öffentlichkeitsarbeit zuständig.

Informationen zu Bildungsveranstaltungen katholischer EB-Einrichtungen unter: www.kath-eb.at

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