"Es ist die Stunde der Politik"

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Die Wirtschaft wird mit Sicherheit keine Antwort auf die gesellschaftlichen Folgen der Globalisierung finden können, meint der deutsche Publizist.

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Die Wirtschaft wird mit Sicherheit keine Antwort auf die gesellschaftlichen Folgen der Globalisierung finden können, meint der deutsche Publizist.

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dieFurche: Der Rücktritt des deutschen Finanzministers Oskar Lafontaine wurde vielfach als Kapitulation der Politik vor der Dominanz der Wirtschaft interpretiert. Was ist von einer solchen Sichtweise zu halten?

Warnfried Dettling: Die Sichtweise, daß sich damit eine bestimmte Form von Politik zurückgezogen hat, ist schon richtig. Nicht richtig ist meiner Meinung nach, daß die Politik keine gestaltende Rolle mehr spielt in der Gesellschaft. Es ist so, daß die Wirtschaft mit Sicherheit keine Antwort finden wird auf die gesellschaftlichen Folgen der Globalisierung, das ist die Aufgabe der Politik. Ich würde sogar sagen, die Politik wird wichtiger werden. "Es ist die Stunde der Politik", so heißt ein neues Buch von Lothar Späth (ehemaliger Ministerpräsident von Baden-Württemberg, CDU; Anm.). Lafontaine ist gescheitert, weil er eben ein ganz bestimmtes Modell der Beziehungen zwischen Wirtschaft und Gesellschaft und Politik vertreten hat, das sich in Zukunft wahrscheinlich so nicht mehr halten läßt. Man kann drei verschiedene Modelle dieser Beziehungen unterscheiden: Das eine - Modell Lafontaine - ist der Versuch, die Wirtschaftsordnung der Gesellschaftsordnung unterzuordnen, das heißt durch die alten Rezepte von Keynes eine Globalsteuerung zu machen und die Wirtschaft nach sozialen Kriterien auszurichten. Der zweite Weg ist das, was ich die marktradikale Lösung nenne. Sie sagt: Wenn der Markt sich voll entfalten kann, dann haben wir auch eine gute Gesellschaft. Eine Lösung, die ich für falsch halte. Die dritte Antwort wäre die, daß man sagt, die Wirtschaft muß sich nach ökonomischen Gesetzmäßigkeiten entwickeln, dadurch wird sich der Reichtum der Gesellschaft vermehren; und jetzt kommt es auf die Politik an, daß sie dafür sorgt, daß von dieser Entwicklung, von der Globalisierung alle etwas haben und nicht nur die wenigen.

dieFurche: FAZ-Mitherausgeber Günther Nonnenmacher hat in einem Leitartikel (s. "Zitiert", S. 14) gemeint, die Politik dominiere nur in Ausnahme- und Notzeiten, etwa im Falle eines Krieges; ansonsten bestimmten Ökonomie und Technologie das Geschehen, das sei der glückliche Normalfall ...

Dettling: Im Prinzip ist das richtig, nur muß man eines ganz klar sehen: Wenn es der Wirtschaft gut geht, muß es nicht allen in der Gesellschaft gut gehen. Die zentrale Veränderung ist die Veränderung der Arbeitsgesellschaft. Diese Veränderung läuft darauf hinaus, daß die neu entstehenden Arbeitsplätze anspruchsvoller werden, mehr Intelligenz, mehr geistige Mobilität erfordern, und daß sie nicht mehr unbedingt männlichen Normalbiographien entsprechen werden. Das heißt, die Gefahr besteht darin, daß die Gesellschaft auseinanderfällt in jene Gruppe, die mithalten kann, die sogar noch profitiert von den Veränderungen, und in jene Gruppen, die nicht mehr oder scheinbar nicht mehr gebraucht werden. Die soziale Frage der Industriegesellschaft war: Wie verhindere ich die Ausbeutung der arbeitenden Menschen? Da haben wir großartige Antworten gegeben: Sozialpartnerschaft, Gewerkschaften, Kammern usw. Aber die soziale Frage der Zukunft heißt: Wie verhindere ich die Ausgrenzung der nicht arbeitenden Menschen? Diese soziale Frage kann nur durch Politik beantwortet werden.

dieFurche: Wenn man am Primat der Politik festhalten will: läßt sich der auch auf nationalstaatlicher Ebene behaupten, oder ist hier die europäische Ebene angesprochen?

Dettling: Ich will Ihnen zwei Beispiele für Bereiche nennen, die ganz zentral für die künftige Entwicklung unserer Gesellschaften sind und die auf nationaler Ebene anzugehen wären. Das eine ist der ganze Bereich des Bildungswesens. Für die Jugendlichen von heute wird es entscheidend sein, ob sie über eine hervorragende Bildung und Ausbildung verfügen; und es wird weiters entscheidend sein, ob im Erwachsenenleben immer wieder Zeiten freigeschlagen werden, in denen die Leute neue Kompetenzen erwerben können. Nun sehen Sie aber, daß sowohl in Österreich als auch in Deutschland das Bildungswesen überhaupt nicht als Ursache für Lebenschancen angesehen wird. Wir haben ein Bildungswesen, das auch unter sozialen Gesichtspunkten versagt: die Vorteile einer Universitätsausbildung - ein späteres höheres Einkommen - werden privatisiert, die Kosten aber werden sozialisiert - dadurch, daß der Staat die Bildung bezahlt. Eine Reform des Bildungswesens, die den sozialen Zugang sichert, aber mehr Leistung und mehr Wettbewerb einführt, ist viel wichtiger als alles Geklage über Globalisierung. Das zweite Beispiel: Wenn man die diversen Sozialsysteme vergleicht, kann man eines eindeutig sagen: Wir haben hier für die, die in der Arbeitsgesellschaft drinnen sind, relativ hohe Löhne, relativ hohe soziale Sicherheiten, dafür haben wir eine große Anzahl von Arbeitslosen. In Amerika hat man kaum Arbeitslose, aber sehr viele working poor. Unsere Sozialsysteme wirken als Ausschließungsmaschinen - sie schließen Menschen aus der arbeitenden Gesellschaft aus. Und wenn man das ändern will und trotzdem Amerika nicht haben will, muß man sich etwas einfallen lassen: etwa Kombilöhne, also die Verbindung von Sozial-Einkommen und Markt-Einkommen und dergleichen mehr.

dieFurche: Das heißt, daß der Nationalstaat abgedankt hat ...

Dettling: ... das würde ich ganz lebhaft bestreiten. Ich würde sagen, daß bei vielen Politikern der Hinweis auf die Globalisierung eine Ausrede für nationale Trägheit und Phantasielosigkeit ist; um es noch brutaler zu sagen: Eine Gesellschaft, deren heimliches Ideal der Lebenszeitbeamte ist, wird sich in Zukunft sehr schwer tun.

dieFurche: Viele sehen aber als Alternative zu diesem "rheinischen Kapitalismus" nur das angelsächsische Modell, das Sie eben auch kritisiert haben.

Dettling: Ich sehe im Grunde weltweit drei große Modelle, die um die Vorherrschaft streiten: das US-amerikanische Modell, das asiatische und das mitteleuropäische Modell. Man kann diese drei Modelle danach beurteilen, wie sie mit drei Werten, drei Zielen umgehen: persönliche Freiheit, Demokratie, Menschenrechte - wirtschaftliche Dynamik, Wohlstand - sozialer Zusammenhalt, sozialer Ausgleich. Da ist es so, daß in den asiatischen Ländern versucht wird, die marktwirtschaftliche Dynamik abzukoppeln von politischer Freiheit, man setzt auf die wirtschaftliche Dynamik, hofft auf die traditionelle soziale Sicherheit und will Demokratie verhindern. Das US-amerikanische Modell verbindet wirtschaftliche Dynamik und individuelle Freiheit, Demokratie. Europa ist es bis jetzt gelungen, soziale Sicherheit, Demokratie, wirtschaftlichen Wohlstand zu verbinden. Ich glaube, daß wir dieses europäische Modell auch im 21. Jahrhundert halten müssen und halten können. Dazu bedarf es aber der Politik und der strukturellen Reformen in den zentralen Institutionen der Gesellschaft. Die Frage ist ob wir das hinkriegen oder nicht.

Das Gespräch führte Rudolf Mitlöhner.

Warnfried Dettling lebt als freier Publizist in München (u. a. "Wirtschaftskummerland? Nach dem Globalisierungsschock: Wege aus der Krise". Kindler Verlag, München 1998, öS 291,-).

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