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Der hohe Anteil an Gastarbeitern und Arbeitslosen ist für Vorarlberg eine große sozialpolitische Herausforderung.

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Der hohe Anteil an Gastarbeitern und Arbeitslosen ist für Vorarlberg eine große sozialpolitische Herausforderung.

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Vorarlberg blickt, bedingt durch seine geographische Lage, aber auch durch seine Geschichte, als einziges österreichisches Bundesland nach Westen.

Diese Orientierung zur Bodensee-Region - mit den Schweizer Kantonen St. Gallen, Appenzell, Thurgau, Schaffhausen, dem Fürstentum Liechtenstein, Baden-Württemberg und dem bayerischen Allgäu - wird auch maßgeblich die gesell-schafts- und wirtschaftspolitische Entwicklung Vorarlbergs in den nächsten Jahren prägen. Auch wenn sich die Schweizer in der Volksabstimmung vom 6. Dezember 1992 gegen den EWR entschieden haben und ein Beitritt der Eidgenossen zur EU sicher nicht rasch kommt, sind aucĮįi in den Bodensee-Kantonen deutliche Ansätze bemerkbar, der Gefahr der Selbstisolation durch verstärkte Zusammenarbeit auf regionalen Ebenen gegenzusteuern.

Dieser Raum rund um den Bodensee - im Kräfteparallelogramm zwischen München, Stuttgart, Zürich und Mailand - zählt mit zu den wirtschaftlich dynamischsten Regionen Mitteleuropas und ist zugleich ökologisch sehr sensibel: Er stellt sowohl eine attraktive Urlaubslandschaft als auch eine hochentwickelte Industrie- und Technologieregion dar.

DIE GRENZEN FALLEN

Vorarlberg als Tourismus-und Industrieland ist dafür ein Paradebeispiel. Den Bodensee als Trinkwasserspeicher, dieses alte Kulturland als Obst-, Wein- und Gemüsegarten, diese europäische Erholungslandschaft zu erhalten und gleichzeitig wirtschaftlich weiterzuentwickeln, ist die strukturpolitische Herausforderung. Gefragt ist eine Balance zwischen ökonomischen und ökologischen Erfordernissen und eine „sanfte", auch sozialverträgliche Wirtschaft für diesen Raum.

In den nächsten Jahren werden die Grenzen rund um den Bodensee noch durchlässiger werden.. Wir werden zugleich den Abbau bürokratischer und institutioneller Barrieren vorantreiben und die regionale Zusammenarbeit auch bei den sozialen Dienstleistungen verstärken. Wir stellen im Sozialbereich gezielt auf Koope-

rationen und Arbeitsteilungen mit den verschiedenen Einrichtungen in der Region ab. Gemeinsame Forschung und Entwicklung für den Sozial- und Gesundheitssektor und bei der Ausbildung sind die logische Konsequenz.

Das Vorarlberger „Institut für Sozialdienste ' denkt beispielsweise daran, eine Art Kontaktbörse 'für Sozialprogramme und Dienstleistungen für die Bodensee-Region im Hinblick auf die Sozialtöpfe der EU zu initiieren. Ähnliches vollzieht sich am Bildungssektor: Unter maßgeblicher Beteiligung Vorarlbergs hat die Internationale Bodensee-Konferenz der Anrainerländer vor kurzem den ersten Studienführer für die Euregio Bodensee herausgebracht. Studierende und Interessenten für berufliche und außerberufliche Weiterbildung können sich damit erstmals über das breitgestreute Angebot an Lehr-und Forschungsangeboten, Fachhochschulen, Hochschulen, Universitäten, Post-Gra-duate-Studien, Hochschullehrgängen, Ingenieurschulen, Bibliotheken und so weiter informieren. Relativ weit vorangeschritten ist die technologische Vernetzung.

Vorarlberg ist nicht nur das Bundesland mit der relativ höchsten Exportquote -das Ländle erwirtschaftete bei einem Bevölkerungsanteil von knapp vier Prozent rund acht Prozent aller österreichischen Ausfuhren -, sondern auch das Bundesland mit dem höchsten Ausländeranteil: Er liegt, bezogen auf die Wohnbevölkerung, bei 13 Prozent, bei den Beschäftigten sogar bei 17 Prozent. Der größte Teil entfällt dabei auf Gastarbeiterfamilien aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus der Türkei. Der Islam ist, noch vor den evangelischen oder reformierten Bekenntnissen, zur zahlenmäßig zweitstärksten Glaubensgemeinschaft aufgerückt.

Das bedingt neben sozialen auch kulturelle Spannungsverhältnisse, die es aufzuarbeiten gilt. Bemerkenswert ist eine Nachricht jüngsten (_Datums: Erstmalig nimmt die Zahl der Ausländer an der Ländle-Bevölke-rung nicht mehr zu, der Zuzug ist gestoppt. Das ist sicher eine Auswirkung des Ausländer-Aufenthaltsgesetzes, zugleich aber ein Indikator einer veränderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung.

WENIGE HILFSKRÄFTE

Die ständig schrumpfende Zahl der Mitarbeiter in der Textilindustrie zeigt modellhaft, wohin die Reise geht. Strukturwandel, Rationalisierung, Automatisierung, Prozeßsteuerung treffen gerade in dieser Traditionsbranche am stärksten die ungelernten Arbeitskräfte. Tex-til ist heute eine High-Tech-Branche, und Unternehmen, die nicht nur in Maschinen, sondern auch in Management, kreative Innovation, Logistik, Marketing und so weiter investiert haben, florieren trotz der vielbeschworenen Textilkrise. Sie brauchen immer weniger Hilfskräfte. Dasselbe gilt in anderen Industrie- und Wirtschaftszweigen und erst recht in den neuen Produktionsund Dienstleistungsberufen.

Wenn der Zug weiter in diese Richtung fährt, braucht Vorarlberg keine neuen ungelernten Gastarbeiter aus der Türkei oder anderswoher. Der Markt erfordert vielmehr hochqualifizierte, bestens ausgebildete Mitarbeiter. Diese hervorzubringen, ist die Herausforderung an die Bildungspolitik nicht nur der Regierungsverantwortlichen, sondern unserer ganzen Gesellschaft.

Das ist die eine gesellschaftspolitische Konsequenz. Die zweite, mindestens ebenso drängende: Unsere Bevölkerung wird sich mehr als bisher darauf einstellen müssen, die im Land lebende^ Gastarbeiter (und auch Asylanten) zu integrieren. Dies muß spätestens in der dritten Generation passieren. Und das heißt: Jetzt! Denn viele Gastarbeiterfamilien leben in drei Generationen hier. Die zweite und dritte ist meist im Land geboren und aufgewachsen. Daß sie in ihre Heimatländer zurückkehren, ist eher eine Illusion.

Die Situation ist nicht so neu: Die Vorarlberger Gesellschaft hat in den letzten 150 Jahren bewiesen, daß sie eine starke Integrationskraft besitzt. So mancher „Alemanne" trägt Namen trientinischer, italienischer Provenienz. Vorarlbergs Wirtschaft hat immer wieder „fremde" Arbeitskräfte ins Land geholt: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und anfangs des 20. Jahrhunderts aus der Monarchie, mit der „Option" 1940/41 die Südtiroler, mit dem Wirt-schaftsvrander der späten fünfziger und frühen sechziger

Jahre Steirer und Kärntner, in den siebziger Jahren Türken und Südslawen.

Trotz oder gerade wegen dieser wirtschaftlich positiven Perspektive werden wir auch in den nächsten Jahren mit relativ hohen Arbeitslosenzahlen konfrontiert sein - und dies vor allem bei den ungelernten Berufen.

Das ist eine soziostrukturel-le Herausforderung: Wir kommen weder darum herum, uns flexiblere Modelle der Aufteilung von Arbeit (und Arbeitszeit) einfallen zu lassen, noch können wir an diesem zusätzlichen, sozialpolitisch motivierten Erfordernis einer Bildungsrevolution vorbeigehen.

Der Autor ist

Geschäftsführer des Vorarlber-ger Instituts für Sozialdienste.

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