Flugzeug vor dem Absturz?

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Etwas Besseres als der Kapitalismus wurde noch nicht gefunden, wird aber dringend gebraucht. Eine Replik auf Veit Sorgers Plädoyer für das kapitalistische System. Von Gottfried Jochum

Im jüngsten Interview mit der Furche (28/2007) verteidigt der Präsident der Industriellenvereinigung, Veit Sorger, den Kapitalismus und die Globalisierung: "Wer hat Arbeitsplätze und hohe Einkommen geschaffen und mit welchem System kann man ein derartiges Sozialnetz knüpfen?"

Ich bin ein heftiger Verteidiger des Kapitalismus, weil ich nichts anderes und Besseres gesehen habe." So Veit Sorger in sympathischer Offenheit. Sollten wir anderes von ihm erwarten, angesichts seiner Funktion? So führt er zwar das Wort "Herz-Jesu-Marxismus" in seinem Wortschatz, hat aber verständlicherweise für die Sache selbst wenig übrig: Diese Gutmenschen wollen anscheinend verteilen, was nicht da ist! Jedenfalls: Welches System außer dem Kapitalismus hat derart viele Arbeitsplätze und hohe Einkommen geschaffen, dass ein Sozialnetz wie das unsere überhaupt erst möglich wird?

Das ist nicht ganz neu, denn kein Geringerer als Karl Marx schrieb schon vor über 150 Jahren ins kommunistische Manifest: "Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschifffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen … - welches frühere Jahrhundert ahnte, dass solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten?"

Der Zwang zum Wachstum

Der Sozialismus als Staatskapitalismus ist kläglich gescheitert. Ist aber heute nicht schon mit Händen zu greifen, dass der Ressourcen verschlingende Wachstumszwang des neoliberalen Zinskapitalismus auf Dauer ebenso wenig aufrecht zu erhalten ist? Da nützt es wenig, den immer dringender werdenden Umweltschutz als Schwarzen Peter zwischen Industrie, Verkehr und Haushalten hin- und her zu schieben. "Ich habe nichts Besseres gesehen" reicht nicht aus: dringend erforderlich sind Visionen, solange unsere Gesellschaft noch keinen Arzt benötigt; "Möglichkeitsdenken", nicht bloß der "Realismus" des heute noch mühsam Bestehenden.

Möglichkeitsdenken

Am mangelnden (konkreten) Möglichkeitsdenken ist der Marxismus gescheitert: Hauptsache, die Welt änderte sich. Sollen wir etwa sagen: Hauptsache, die Welt bleibt, wie sie ist? Das wäre chancenlos. Das kapitalistische Wirtschaftssystem beruht auf Kapitalverwertung, das heißt: Kapital wird nur dann herausgerückt, wenn es Ertrag verspricht. Deswegen der Wachstumszwang. Wir können die Früchte des Fortschritts, unseren beispiellosen Wohlstand, nie unbeschwert genießen: Denn wehe, wenn das Wachstum (auf dessen permanent wachsender Basis) auch nur ein wenig nachlässt - schon ist die Krise los. Wir alle sitzen gleichsam in einem Flugzeug, das sofort ins Trudeln kommt, sobald seine Beschleunigung nachlässt.

Veit Sorger nähert sich einem Kernproblem, wenn er auf das Thema CSR (Social Corporate Responsibility) zu sprechen kommt. "Gut wirtschaften bedeutet ja nicht nur Geld zu machen. Jeder Manager und Unternehmer hat das Ziel, Werte zu vermehren. Aber Werte manifestieren sich nicht nur in Finanzkennzahlen." Ein guter Arbeitgeber (Sorger verschmäht das gute alte Wort nicht) schafft unter anderem ein gutes Umfeld für Mitarbeiter, ein gutes Verhältnis zu Kunden, Lieferanten und Kreditgebern. All das bündelt sich für ihn im Begriff der CSR.

Das sind goldene Worte! Es gab einmal eine Zeit, da sich Unternehmer hierzulande primär als Arbeitgeber verstanden und darauf stolz gewesen sind. Heute wird die Kundenorientierung in den Vordergrund gerückt, durchaus zu Recht, denn der Dienst an diesen entscheidet vor allem anderen über die Lebensfähigkeit und-berechtigung eines jeden Unternehmens. Wenn man nun aber nach der Zielsetzung eines Wirtschaftsbetriebes fragt, so lautet heute die Antwort immer häufiger: Gewinnmaximierung. Natürlich, Gewinn ist vonnöten zur Kostendeckung plus Finanzierung von Wachstum plus Bedienung der Kapitalgeber. Wo aber bleiben die Mitarbeiter und wo die Kunden? Sie sind Mittel zum Zweck der Maximierung des Gewinnes geworden! Arbeitnehmer sind offensichtlich Manövriermasse, nicht anders als die materiellen Produktionsmittel, mit denen sie in Kostenkonkurrenz stehen. Zur prinzipiell unbegrenzten Steigerung des Gewinnes werden sie "freigesetzt", in Verfolgung glasklarer Prioritäten. Eine Instanz aber, der nötigenfalls auch Menschen geopfert werden, nennt man einen Götzen.

In der Wirtschaft ist es salonfähig geworden, die Mittel (Geld, Gewinn) an die Stelle des Zweckes (Dienst am Kunden, Nutzen der Mitarbeiter und dann erst der Kapitalgeber) zu setzen. Was heute wirklich "zählt", sind vornehmlich die letzteren. Das Unternehmen übernimmt mehr und mehr die Funktion einer Profitmaschine. Entsprechend verhalten sich nicht wenige Manager und bedienen sich dieses Apparats auch für den eigenen maximalen Gewinn. Sie führen Krieg mit anderen Mitteln (Verdrängungswettbewerb bis hin zu feindlichen Übernahmen) - bald hier, bald für die andere Seite, in einer Art von Söldnermentalität. Entrüstung darüber ist zwecklos, denn die Systemlogik verlangt, in allererster Linie Profite zu generieren.

Warum wohl hat es immer noch den von Veit Sorger beklagten Anschein, die Industrie würde die Menschen ausbeuten und die Umwelt verschmutzen? Nicht gerade eine Zwölferfrage! Diese Optik entsteht offenbar in den Entwicklungsländern. Die Konzerne beschmutzen sich nicht unbedingt die eigenen Hände, aber sie unternehmen wenig zur Schaffung menschenwürdiger Arbeits- und Umweltbedingungen bei ihren Zulieferanten. Zumindest solange nicht, als nicht winzige NGOs wie die "Clean Clothes Campaign" ausreichend Druck machen.

In einem früheren Furche-Beitrag hat Christian Friesl CSR als ein "Marketingtool" bezeichnet. Das dürfte leider realistischer sein als der viel umfassendere CSR-Begriff seines Kollegen Veit Sorger. Genau dieser scheint aber den richtigen Weg zu weisen: Unternehmen müssen Geld verdienen (das ist eine Überlebensbedingung), aber sie sind nicht bloß dazu da, nicht als raison d' être.

Ethische Rückbindung

Deshalb sollten auch Unternehmer und ihre Funktionäre um die besten Rahmenbedingungen zwecks Humanisierung der Wirtschaft bemüht sein. Ein reflexhaftes "weniger Staat, mehr privat" genügt nicht, auch nicht eine möglichst schrankenlose Wirtschaftsfreiheit. Wirtschaft als eminent ganzheitliche Aufgabe braucht als Basis die ethische Zielsetzung und Rückbindung. Im Neoliberalismus ist beides durch das Geld ersetzt worden. Jawohl, vielleicht haben wir noch nichts Besseres gesehen als den Kapitalismus, aber solches wird dringend gebraucht! Und dies durchaus auch dazu, um das, was sehr wohl schon da ist, gerechter zu verteilen.

Dom Hélder Câmara soll gesagt haben: "Wenn ich den Armen Brot gebe, bin ich ein Heiliger. Sobald ich jedoch nach den Gründen der Armut frage, schilt man mich einen Kommunisten." Ist Barmherzigkeit respektabel, Gerechtigkeit aber schon zu viel verlangt? Gewiss sollen Unternehmen Corporate Social Responsibility auch durch Projekte betreiben, die sie sich ausgesucht haben. Sie sollen aus freien Stücken Gutes tun und auch davon reden. Allerdings: Nicht als Alibihandlung, als Ersatz für eine faire Wirtschafts- und Sozialordnung! Also keinesfalls zur Ablenkung von den großen Zukunftsaufgaben, die wir dringend zu lösen haben. Denn es gilt auch hier: Zuerst die Pflicht und dann die Kür.

Der Autor war 40 Jahre in einem Großbetrieb der Textilindustrie tätig, zuletzt im Vorstand.

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