"Gletscher sind Individuen

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Seit 1850 haben die Alpengletscher knapp die Hälfte ihres Volumens verloren. Und der weitere Rückzug des "Ewigen Eises" scheint vorprogrammiert.

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Seit 1850 haben die Alpengletscher knapp die Hälfte ihres Volumens verloren. Und der weitere Rückzug des "Ewigen Eises" scheint vorprogrammiert.

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Anhaltender Gletscherschwund ohne Anzeichen einer Trendwende", so das Ergebnis des jüngsten Gletscherberichts, herausgegeben vom Österreichischen Alpenverein. Seit Jahren beunruhigen Meldungen über das Schmelzen des "Ewigen Eises" die Öffentlichkeit. Wie bedrohlich sind die Nachrichten von der Eisfront, hat die furche Heinz Slupetzky, Gletscherforscher an der Universität Salzburg, gefragt.

Im Laufe der letzten 10.000 Jahre habe es immer wieder Wärmeperioden gegeben, in denen die Gletscher wesentlich kleiner waren, als wir sie heute kennen, stellt Slupetzky den aktuellen Befund in einen größeren Kontext. Wärmezeiten wechselten in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen mit kälteren Perioden. Die derzeitige globale Erwärmung liegt noch im Bereich der natürlichen Temperaturschwankungen, ist Slupetzky sich sicher. Allerdings an der oberen Grenze, schränkt der Wissenschafter am Salzburger Institut für Geographie seine Aussage ein.

Am Beginn der Gletscherforschung stand die Faszination Veränderungen der Natur zu beobachten und zu durchschauen. Durch die in den letzten Jahren zurückgegangenen Gletscher betreten die Forscher im eisfrei gewordenen Gelände alljährlich Neuland und werden zu Zeugen von Naturvorgängen, die noch niemand vor ihnen wahrnehmen konnte. Der Glaziologe drückt der überraschten Journalistin eine Baumscheibe in die Hand. Schon viele hätten das kostbare Stück als "Jausenbrett" haben wollen, bemerkt er schmunzelnd. Die Holzscheibe stammt von einem Zirbenbaumstamm, den man im eisfrei gewordenen Gelände der Pasterze gefunden hat. Vor etwa 10.000 Jahren habe es eine so lange Wärmeperiode gegeben, dass im Talbecken der Pasterze ein Zirbenwald wachsen konnte. 143 Jahresringe weist das durch die Last des Eises oval gewordene Holz auf. Zählt man die gequetschten Randbereiche dazu, kommt man gar auf 225 Jahresringe. Auch einige Torfstücke hat man im Gletschervorfeld gefunden - Zeugen völlig anderer Bodenverhältnisse und Beweise dafür, dass die Gletscher schon einmal wesentlich kleiner waren als heute.

Gute Klimaindikatoren Seit 1850 haben die Alpengletscher knapp die Hälfte ihres Volumens verloren. In den Jahren 1965 bis 1981 sind sie zwar mehrheitlich vorgestoßen, doch seit 1982 ist die Tendenz eindeutig negativ. Gletscher reagieren sehr genau auf Klimaveränderungen. Slupetzky: "Als sensible Klimaindikatoren können sie einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Klimaschwankungen und ihrer regionalen und weltweiten Auswirkungen liefern." Weltweit werden 95 Prozent der Gebirgsgletscher ständig kleiner. Anzeichen einer globalen Erwärmung, die nicht mehr wegdiskutiert werden kann. Auch wenn die Grenze der natürlichen Temperaturschwankungen noch nicht überschritten ist: "Es wird immer schwieriger zu beweisen, dass für die gegenwärtige Klimaerwärmung nicht der Treibhauseffekt die Ursache und damit der Mensch dafür verantwortlich ist" Für den Salzburger Glaziologen treffen zwei Faktoren in ihrer Wirkung zusammen: Einerseits die natürliche Klimaveränderung, andererseits eine durch den Einfluss des Menschen verursachte Erwärmung. In welchem Verhältnis beide Ursachen zueinander stehen, sei sehr schwer zu beweisen und entzweie die Experten. Sowohl der menschliche als auch der naturgegebene Faktor bewege sich wahrscheinlich zwischen 40 und 60 Prozent, erläutert Slupetzky. "Ob wir die natürliche Schwankungsbreite überschreiten werden, wird sich erst in den nächsten Jahrzehnten zeigen. Und wenn wir die natürliche Schwankungsbreite überschreiten, dann hätte es eine solche Super-Interglazialzeit - wie ein Schweizer Gletscherforscher formuliert - in den vergangenen zwei Millionen Jahren nicht gegeben."

"Gletscherknecht" Heinz Slupetzky ist mit den Gletschern seit seiner Kindheit verbunden. Seine Eltern bewirtschafteten die Rudolfshütte in der Granatspitzgruppe. Gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Werner Slupetzky begann er 1960 die ersten Messmarken im Stubachtal anzulegen. Gletscher sind "Individuen", betont er. Sie reagieren auf Klimaveränderungen sehr unterschiedlich. Das Ödenwinkelkees schmolz zunächst 25 Jahre lang stark zurück, seit 15 Jahren ist es aber stationär. Das Untere Riffelkees dagegen geht seit 40 Jahren zurück. Das Stubacher Sonnblickkees wurde zunächst kürzer, stieß von 1973 bis 1981 vor, schmilzt aber seit 1982 wieder zurück. Ursachen dafür sind die unterschiedliche Form, Größe und Lage im Gelände der einzelnen Gletscher.

Obwohl die Bilanz in den letzten Jahren eine eindeutig negative Tendenz zeigt, gibt es einige wenige Gletscher, die stationär sind oder geringfügig vorstoßen. "Der Gletscher reagiert auf die Klimaveränderung mit einer Verzögerung von durchschnittlich zehn bis 20 Jahren", erläutert der Gletscherexperte. Nimmt ein Gletscher sehr viel an Masse zu - das Ödenwinkelkees nahm von 1965 bis 1981 an die 20 Millionen Kubikmeter zu - wird die Eisoberfläche aufgehöht. Aufgrund ihres Gewichtes und der Schwerkraft folgend fließt die Eismasse talwärts, das Nährgebiet entleert sich, es kommt zu einer Aufwölbung im Mittelteil. Trotz der Verdickung im Mittelteil schmilzt aber der Gletscher am Zungenende. Erst wenn die Massenwelle am Gletscherende angekommen ist, kann der Gletscher wieder vorstoßen. Beim Ödenwinkelkees betrug die Zeit zwischen dem Beginn des Massenzuwachses bis zur Reaktion an der Stirn zwei Jahrzehnte. Viel kürzer war die Reaktionszeit beim Sonnblickkees, es dauerte nur zehn Jahre, bis sich die positive Massenänderung an der Stirn bemerkbar machte.

Selbst wenn es zu einer Klimaabkühlung kommt, würde sie sich erst nach Jahren auf den Gletscher auswirken. "Seit bald zwanzig Jahren ist fast nichts mehr in den Nährgebieten liegengeblieben, der weitere Rückgang der Gletscher in den nächsten Jahren ist damit vorprogrammiert."

Durch die lange Reaktionszeit ist ein einzelnes Jahr nicht entscheidend, erklärt Slupetzky weiter. Auch der vergangene warme Winter ist für die Gletscher kaum von Relevanz, da der Winter nur minimal in die Bilanz eingeht. Entscheidend ist die Zunahme der Sommertemperatur. Slupetzky: "Bei einem angenommenen Temperaturanstieg von drei Grad in den nächsten 100 Jahren würde die Schneegrenze um rund 200 Meter ansteigen. Dabei würde sich die gegenwärtige Gletscherfläche um zwei Drittel verringern." Dies könnte gravierende Folgen haben: "Ein drastischer Gletscherrückgang würde nicht nur das Landschaftsbild in der Hochregion wandeln, sondern hätte zur Folge, dass der beengte Lebensraum in den Alpentälern verstärkt von Naturgefahren bedroht sein könnte." Als gewaltige Süßwasserspeicher sind die Gletscher auch für weiter entfernte Gebiete relevant, so ist das Gletscherwasser in den Sommermonaten für den Schiffsverkehr auf Donau und Rhein von Bedeutung.

Heinz Slupetzky misst seit 40 Jahren "seine" Gletscher. Er ist der älteste "Gletscherknecht" Österreichs und kann von vielen Erlebnissen und Begebenheiten erzählen. Und auch davon, was er beim Vermessen alles findet: Ski aus den 40er Jahren, ein Abzeichen der Hitlerjugend, Ausrüstungsgegenstände und natürlich jede Menge Müll. Auch nach 40 Jahren ist es für ihn immer noch eine spannende Aufgabe, deren Fortführung ihm ein großes Anliegen ist. Im Zuge der allgegenwärtigen Sparmaßnahmen ist aber zu befürchten, dass sein Lehrstuhl nicht mehr nachbesetzt wird. Da die Gletscherforschung an der Universität Salzburg aber ein "Ein-Mann-Betrieb" ist, könnte dies bedeuten, dass die über Jahre aufgebaute Arbeit "auf Eis" gelegt wird. Insbesondere die Unterbrechung von seit Jahrzehnten geführten Messreihen wäre ein nicht wieder gutzumachender Schaden.

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