Glück ist wichtig, aber nicht das Wichtigste

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Was häufig gemeint ist, wenn nach Glück gefragt wird, ist eigentlich Sinn. Sinn ist wichtiger als Glück. Im Sinn können Menschen auch dann leben, wenn sie gar nicht glücklich sind.

Moderne Menschen haben im großen Stil auf Sinn verzichtet, und meist waren sie sich des Verzichts nicht einmal bewusst, überzeugt davon, es gebe keinen Sinn. In der modernen Anonymisierung und Funktionalisierung vieler Zusammenhänge war der Sinn buchstäblich nicht mehr zu sehen, sodass der Eindruck sinnloser Einzelphänomene entstand und die Frage nach dem Sinn neu aufbrach. Nicht zu allen Zeiten stellte sich die Sinnfrage in solchem Maße, und nicht in allen Kulturen greift sie um sich. Sie bricht dort auf, wo Zusammenhänge fragwürdig werden, die über lange Zeit hinweg fraglose Selbstverständlichkeit für sich beanspruchen konnten. In modernen Wohlstandsgesellschaften hat die Frage nach dem Sinn mit der endlich erlangten Freiheit zu tun, die als Befreiung verstanden worden ist.

Vormals feste Zusammenhänge der Religion, Tradition und Konvention sind dabei fragmentiert und aufgelöst worden. Auch die von außen gestützten inneren Bindungen etwa an Werte im einzelnen Menschen selbst sind zerbrochen. So entstand die innere Leere und äußere Kälte, die viele beklagen und gegen die kaum einer ankommt. Sinn vermittelt Kräfte, Sinnlosigkeit aber entzieht sie: Das ist ein wesentlicher Grund für das Ausbrennen, den Burnout, den so viele Menschen in moderner Zeit erleiden.

Dass mit dem Überfluss materieller Güter und Luxusgüter ein Mangel an Sinn einhergeht, hat seinen Grund darin, dass viele vitale Zusammenhänge ausgehebelt werden: In der Überflutung durch "Sensationen“ guten Essens, teurer Reisen etc. schwindet der Sinn der Sinnlichkeit. Soziale Zusammenhänge mit anderen zerbrechen im wechselseitigen Vergleich der Verhältnisse. Die existenzielle Spannung lässt nach, denn dem Selbst scheint nichts mehr entgegenzustehen; so ist "das Leben nicht mehr zu spüren“. Der feste Rahmen knapper Mittel, der Halt gibt, da mit ihm in jeder Hinsicht gerechnet werden muss, entfällt. Der Überfluss ermöglicht, sich umstandslos zu besorgen, was doch erst einiger Anstrengung in Richtung auf ein Ziel bedürfte, um teleologischen Sinn daraus zu gewinnen. Mit der umstandslosen Verfügbarkeit von Mitteln in jedem Moment entfällt auch die Orientierung auf künftige bessere Verhältnisse, der umfassendere teleologische Sinn. Durch die Fixierung auf die Befriedigung momentaner Bedürfnisse wird die Arbeit über sich hinaus für andere wie auch für kommende Generationen fragwürdig. Wie sonst wäre zu erklären, dass materieller Wohlstand eine solche Erfahrung von Sinnlosigkeit produziert?

Zerbrochene Sinnzusammenhänge

Daher wird inmitten der modernen Zeit verstärkt nach Sinn gefragt: um neue Sinnquellen und mit ihnen neue Energien zu erschließen. Wann immer in der Geschichte Zusammenhänge zerbrachen - etwa zur Zeit des Aristoteles die Zusammenhänge der griechischen polis, zur Zeit Senecas die der kaiserlichen Macht und der darum herum gruppierten Gesellschaft, zu Zeiten der Aufklärung die Zusammenhänge des ancien régime - wurde dies für Menschen zum Anlass, nach Sinn zu fragen, und stets aufs Neue brachten sie ihre Beunruhigung durch die Suche nach "Glück“ zum Ausdruck.

Das Glücksbedürfnis des 21. Jahrhunderts lässt sich als Folge der historischen Ereignisse gegen Ende des 20. Jahrhunderts verstehen, bei denen der teleologische Sinn in sich zusammenfiel, der das Wegbrechen so vieler Sinnzusammenhänge in moderner Zeit so lange hatte übertrumpfen können: Das Ziel, das "größte Glück der größten Zahl“ (J. Bentham, 18. Jh.) zu verwirklichen, war lange Zeit ein gemeinsames Anliegen von Kommunismus und Kapitalismus gewesen, nur der Weg dorthin blieb strittig, und der Streit befeuerte den anhaltenden Krieg der Systeme. Das Ziel verlor seinen Sinn, als ein System allein übrig blieb, das mit der Systemfrage fatalerweise auch die Sinnfrage für erledigt hielt. In einer Zeit des Übergangs fordern Menschen einstweilen individuell "dem Leben“ noch ab, was sie allgemein vom System, von der Gesellschaft, vom Staat nicht mehr erwarten dürfen. Dass es sich aber um ein Übergangsphänomen handelt, ist bereits deutlich erkennbar; die entscheidende Frage in einer neuen globalen Auseinandersetzung lautet demnach nicht mehr: Wer bietet mehr Glück? Sondern: Wer hat mehr Religion?

Arbeit am Sinn

Die Sinnfrage trägt historisch weiter als die Frage nach dem Glück. Wenn Sinn nicht mehr von selbst zur Verfügung steht, beginnt die Arbeit am Sinn, die unverzichtbar ist, denn ohne Zusammenhänge lässt sich nicht leben. Das gilt für die Sinnzusammenhänge des individuellen Lebens, erst recht für die der gesamten Gesellschaft, und auf allen Ebenen des Sinns. Mit der Vergegenwärtigung möglicher Zusammenhänge und der Arbeit daran wird die Fülle des Sinns neu erschlossen, die auf nachvollziehbaren und nicht sehr geheimnisvollen Wegen das vermittelt, was moderne Menschen verzweifelt suchen: Sinn im Leben und Sinn des Lebens. Eine veränderte, andere Moderne wird eine Zeit der Arbeit am Sinn sein, nicht mehr seiner Auflösung. Anders wird diese Moderne sein, da es in ihr nicht mehr nur um die negative Freiheit als Befreiung geht, sondern um die positive Freiheit neuer, frei gewählter Bindungen. Nicht ein Zurück zu vormodernen Verhältnissen, sondern vielfache neue Bindungen von Individuen an sich selbst, an andere, an die Natur, an eine Religion stehen dabei in Frage; auch die neuerliche gesellschaftliche Bindung der Ökonomie an einen Zweck, vor allem den der Bewahrung ökologischer Zusammenhänge.

Die andere Moderne wird wieder eine teleologische Sinnstiftung unternehmen und eine Utopie entwerfen, vermutlich - schon aus Gründen des Überlebens - die Utopie einer ökologischen und sozialen Gesellschaft, die nicht mehr nur national, sondern global zu verwirklichen ist. Aber es wird keine Utopie des Paradieses mehr sein, sei es diesseitig oder jenseitig, in dem sich das menschliche Sein im universellenWohlgefühl auflösen würde. Sollte diese Arbeit erfolgreich sein, wird niemand es erkennen, da niemand mehr die Frage nach dem Sinn stellen wird.

Es wird glückliche Menschen geben, die keinen Anlass dazu haben werden, über das Glück nachzudenken: ein weiteres, wenngleich schweigsames Kapitel in der Geschichte des Glücks. Diese Menschen werden in einer Zeit leben, die andere Herausforderungen zu bewältigen hat.

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