„Ich bin ein Großstadt-Indianer“

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Über eine Millionen Menschen in Österreich leben an der Armutsgrenze – das muss nicht sein, sagt Martin Haiderer. Der Gründer der Wiener Tafel setzt sich seit über zehn Jahren für Mitmenschen ein, die sich nicht einmal das Nötigste leisten können.

„Als Kind wollte ich Indianer werden. Gerade Winnetou ist der Parade-Gutmensch im Wilden-Westen“, überlegt Martin Haiderer. Dann winkt er ab. „Diese furchtbar nüchternen Erwachsenen haben mir aber gesagt, Indianer kann man nicht werden, als Indianer muss man geboren sein.“ Geboren als Indianer ist Haiderer freilich nicht – kein Grund aber, die Idee vom guten Menschen aufzugeben. Haiderer ist heute Sozialarbeiter und leitet Einrichtungen der Caritas Wien. Sein größtes Werk ist wohl die Wiener Tafel, eine Organisation, die überschüssiges und qualitativ einwandfreies Essen vor dem Müll bewahrt und an bedürftige, hungrige Menschen in Wien verteilt. Sie baut so eine Brücke zwischen Überfluss und Mangel, wie sie nie da war:

Derzeit gibt jeder Österreicher jährlich 380 Euro für Lebensmittel aus, die im Müll landen, gleichzeitig leben in Österreich rund eine Million Menschen an der Armutsgrenze. Die Wiener Tafel verteilt um. „Ich bin halt jetzt ein Großstadtindianer“, schmunzelt Haiderer spitzbübisch selbstbewusst. „Indianer verkörpern integre, naturverbundene Persönlichkeiten und leben eine holistische Weltsicht.“ Das gefalle ihm als umweltbewussten, konsumkritischen Menschen, der sich auch mal alle drei Jahre aus dem Berufsleben aussteigt um für ein halbes Jahr durch Asien oder Südamerika zu reisen. Er kennt die verschiedenen Facetten der Armut: „Hinter Armut steckt immer ein persönliches Schicksal, ein Gesicht. Die Menschen haben oft kein Standesbewusstsein, denn Armsein ist mit Scham verbunden, mit Schande. Ich habe über die Jahre viel von der Vielschichtigkeit des Phänomens gelernt.“ Statt Luxusurlaub reicht es Haiderer, mit Hängematte und Buch in der Hand am Meer zu liegen. Lebensfrohe Kindlichkeit spricht aus Haiderers Gesichtszügen, wenn er über Träume von früher plaudert. „Vielleicht kann man mich als modernen Robin Hood bezeichnen. Ich nehme nur niemandem etwas weg. Die Leute geben mir ihre Waren freiwillig und ich gebe sie den Armen.“

Das hört sich leichter an, als es für Haiderer im Jahre 1999 noch ist. Da steht die Wiener Tafel am Beginn – mit einem Startkapital von 5.000 Schilling, die für drei Jahre reichen sollten. Der Weg ist holprig, Mitarbeiter laufen Gefahr, sich bei ihrer Freiwilligkeit selbst zeitlich, nervlich und fast finanziell auszubeuten. Es muss viel Überzeugungsarbeit geleistet werden. Erst ab etwa 2005 ist ein Umdenken der Unternehmen spürbar, Firmen fangen vermehrt an, sozial und ökologisch zu wirtschaften. Sie sponsern die Wiener Tafel oder übergeben ihre überschüssigen Waren, wenn sie sie etwa wegen Überproduktion nicht loswerden. Es sind qualitativ einwandfreie Lebensmittel.

Über 9000 Menschen versorgt

Im kleinen Warenlager der Tafel in der Simmeringer Hauptstraße stapelt sich dieser Überfluss. Haiderer deutet auf eine Kartontasse mit Konservensoden, in denen Marken-Fertiggulasch abgefüllt ist. Ein Blick auf das Ablaufdatum verrät, dass sie noch bis 2012 halten. Dennoch ist das Konserven-Gulasch nicht mehr verkäuflich, denn die Dosen sind eingedrückt. Sie sind nicht mehr schön anzuschauen. Aber sie füllen hungrige Mägen.

Die Großstadt-Robin-Hoods holen mit ihren insgesamt drei Lieferwägen den Überfluss bei den Firmen ab und überbringen ihn je nach Bedarf an über 78 Einrichtungen. 9000 Menschen können so versorgt werden – ohne für das Essen bezahlen zu müssen. 2,5 Tonnen Lebensmittel werden so täglich umverteilt. Mit Begriffen wie Luxus geht der 39-Jährige sehr nüchtern um: „Luxus, das sind die Möglichkeiten, die ich habe: Ich bin in Mitteleuropa geboren, Mann, katholisch sozialisiert und lebe in einem der reichsten und sichersten Länder der Welt. Das ist absoluter Luxus, Milliarden andere Menschen haben ihn nicht.“ Wenn der Wiener mit kurz getrimmtem Haar, Jeans und lockerem Hemd spricht, kommuniziert sein intensiver Blick die Überzeugung hintern seinen Aussagen mit.

Was ist aber Luxus für die Menschen, die hier in Österreich in Armut leben? „Für die ist die Wiener Tafel Luxus. Manchmal bringen wir Schokolade, beispielsweise, wenn nach Ostern keine Schokohasen mehr verkauft werden. Für Kinder in den Flüchtlingsheimen ist das eine exklusive Köstlichkeit, Schokolade lässt sie Kind sein.“

An einem Stück Kind-Sein hat Haiderer scheinbar selbst immer angehalten, gepaart mit gesundem Menschenverstand. Auch wenn manche Mitarbeiter anfangs am Projekt „Wiener Tafel“ gezweifelt haben, Haiderer hat an seine Idee geglaubt – mit Erfolg, wie mittlerweile zahlreiche Auszeichnungen beweisen. Was ihn in seiner Arbeit antreibt, möchte der Sozialarbeiter am liebsten mit den Worten eines Mitarbeiters sagen, denn die Motivation hinter der freiwilligen Tätigkeit scheint bei den Helfern ähnlich zu sein. „Ein Fahrer hat einmal gesagt, schau Martin, wenn ich in die Einrichtungen komme und dort warten schon die Leute mit offenen Armen und großen Augen, dann ist das so wie wenn ich ein Weihnachtsmann bin, der nicht nur einmal im Jahr kommt. Dieses Gefühl ist Motivation und Anerkennung genug.“

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