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Im Rahmen der Verfassung ...

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Beide Wahlrechtsreformvorschläge wesen, sondern die Tatsache, daß die

waren so abgefaßt worden, daß sie — nach Absicht ihrer Konstrukteure — im Rahmen der Verfassung, also des Artikels 26 BVG, bleiben sollten. Die Sozialisten opferten der Kalkulation, zusammen mit der FPÖ gegen die ÖVP im Nationalrat zwar eine einfache, nicht aber eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit zu haben, sogar eine ihrer Lieblingsideen: Auch im SPÖ-Vorschlag blieb der Grundsatz, daß die Aufteilung der Mandate auf die Wahlkreise nach der Bürgerzahl und nicht nach der Wählerzahl zu erfolgen habe, unangetastet. Eine Änderung dieser Bestimmung wäre ja nur gemeinsam mit der ÖVP möglich.

Nach dem Ende des kurzen „Flirts“ SPÖ-FPÖ war das Interesse der Sozialisten an der Wahlrechtsreform geringer geworden, da der unmittelbare Anlaß zur geplanten Novellierung der Nationalratswahlordnung weggefallen war. Dennoch aber blieben die Sozialisten aktiv und verbesserten ihren Entwurf vom Sommer

1963 („Olah-Entwurf“) im Sommer

1964 in einigen Punkten. Aber da nun eine Kampfabstimmung im Nationalrat nach der Beendigung der kurzfristigen, aber intensiven Kooperation von Sozialisten und Freiheitlichen von keiner der beiden Großparteien mehr angestrebt wurde, blieb nun nichts anderes übrig, als sich zu einigen. ÖVP und SPÖ einigten sich dahingehend, daß beide Entwürfe den juridischen Fakultäten der österreichischen Universitäten zur Erstattung eines Gutachtens über die Vereinbarkeit beider Entwürfe mit der Verfassung übergeben werden sollten.

Verfassungswidrig

Die juridische Fakultät der Universität Wien lehnte wegen einer eventuellen Befangenheit ab (zwei der vier Staatsrechtslehrer der Wiener Universität sind Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes). Die Universität Innsbruck arbeitete jedoch ein Fakultätsgutachten aus, das beide Entwürfe — zur Überraschung der Parteijuristen — als mit der Verfassung unvereinbar erklärte. Im ÖVP-Entwurf wurden die Einmanh-wahlkreise (gegen die Grundsätze der Verhältniswahl), die Briefwahl (gegen das geheime und persönliche Wahlrecht) und die Fünf-Prozent-Klausel auf Bundesebene (gegen den Grundsatz der Einteilung des Bundesgebietes in Wahlkreise), im SPÖ-Entwurf vor allem die durch die Eliminierung des Hagenbach-Bischoffschen Systems beabsichtigte weitgehende Verschiebung der Mandatsvergebung in das zweite („endgültige“) Ermittlungsverfahren (gegen den Grundsatz der Wahlkreise) als verfassungwidrig bezeichnet.

Damit sind beide Entwürfe bereits außerhalb der ernsthaften Diskussion. Den Parteien bleiben zwei Möglichkeiten. Entweder man schiebt die Wahlrechtsreform auf die lange Bank und begräbt sie schließlich stillschweigend oder ÖVP und SPÖ einigen sich auf einen gemeinsamen Entwurf, der dann die Hürde des Artikels 26 BVG überspringen könnte. Dafür, daß besonders die Sozialisten nach wie vor eine Novellierung anstreben, spricht, daß die SPÖ immer wieder betont hat, nicht tagespolitische Erwägungen seien für Ihr Initiative ausschlaggebend ge-

gegenwartige Wahlrechtsordnung es ermöglicht, daß eine Partei mit einer relativen Stimmenmehrheit bei der Mandatsvergebung trotzdem nur zweite bleiben kann — so geschehen 1953 und 1959. Als Indiz für das weiterhin bestehende sozialistische Interesse an einer Reform kann auch die Aktivierung des Nationalratsunterausschusses für die Wahlrechtsreform durch den Vorsitzenden, Abg. Winter (SPÖ), gelten.

Diese Situation nach der Erstattung des Fakultätsgutachtens könnte die große Stunde einer wirklich tiefgreifenden Wahlrechtsreform sein. Eine Reform aus rein taktischen Erwägungen, ohne daß das System der Verhältniswahl auch nur in Frage gestellt wird, ist, weil vollkommen systemkonform, keine einschneidende Reform. Vom Wahlsystem gehen, wie die in Österreich so stiefmütterlich behandelte politische Wissenschaft überzeugend nachgewiesen hat (Hermens, Duverger und andere), überaus wichtige Impulse für die Demokratie aus. Nicht bei einer Untersuchung der Ableitung von abstrakten Gerechtigkeitsbegriffen, sondern mittels empirischer Analysen ergibt sich, daß die Strukturen einer Demokratie, insbesondere das Parteiensystem, vom Wahlsystem entscheidend beeinflußt werden. Die Mehrheitswahl britischen Typs (relative Mehrheitswahl) fördert von sich aus ein Zweiparteiensystem und Tendezen zur Mitte, zum

Grenzwähler. Die Mehrheitswahl französischen Typs (absolute Mehrheitswahl) fördert zwar nicht ein Zweiparteiensystem, wohl aber auch einen Trend zur Mitte. Die Verhältniswahl ist hingegen einer Parteienzersplitterung und einer ständigen Instabilität der Regierungen förderlich und begünstigt auch einen Trend zu den Extremisten.

Das ..Zünglein an der Waage“

Diese zu wenig beachteten Mechanismen, die automatisch wirksam werden, mögen im Augenblick für Österreich wegen der „großen Koalition“ von geringer Bedeutung erscheinen, ist doch außerdem trotz Verhältniswahl eine klare Tendenz zum Zweiparteiensystem zu erkennen. Dennoch sprechen aber grundsätzliche Erwägungen auch in Österreich für die Mehrheitswahl, wie in der Viertel Jahrszeitschrift „Die Republik“ (Nr. 1 und 2/1965) ausführlich dargelegt wurde. Die Folge der Mehrheitswahl, daß die Parteien gezwungen sind, sich in Politik und Propaganda weitgehend an der Mitte, am Grenzwähler, zu orientieren, könnte eine Stärkung des in Österreichs unterentwickelten politischen Konsensus, der bewußten Übereinstimmung aller wesentlichen politischen Strömungen im Grundsätzlichen, und eine Beseitigung der „Lagermentalität“ (Norbert Leser) mit sich bringen.

Es ist auch zu bedenken, daß bei der Entscheidung für ein Wahlsystem nicht ausschließlich vom Status quo ausgegangen werden darf. Selbst wenn man der Meinung ist, die „große Koalition“ werde Österreich noch sehr lange erhalten bleiben, wird die Möglichkeit des Auseinanderbrechens der VP-SP-Koalition — vor allem nach den Erfahrungen des letzten Jahren — nicht völlig auszuschließen sein. Zerbricht aber die Koalition, so hat das zur Folge, daß in irgendeiner Form wieder koaliert werden muß, da ja bei Verhältniswahl klare Mehrheitsverhältnisse unwahrscheinlich bleiben werden. Wenn aber eine andere Koalition als die der Großparteien regieren muß, so hat eine kleine dritte Partei eine Schlüsselfunktion. Diese Partei kann sich dann im Zuge einer Art von Versteigerung möglichst teuer verkaufen, dadurch einen im Verhältnis zu ihrer Größe ungewöhnlichen Einfluß erreichen und zum vielzitierten „Zünglein an der Waage“ werden. Kann es im Inter-

esse der beiden Großparteien odei im Interesse der österreichischer] Demokratie liegen, daß unter Umständen das politische Schicksal des Landes von der FPÖ abhängt? Wii glauben nicht.

Ein durch ein relatives Mehrheitswahlsystem verbürgtes Zweiparteiensystem würde eine derartig gefährliche Entwicklung wegen dei danr im Parlament herrschender klaren Mehrheitsverhältnisse, die mit einem Zwang zur Mäßigung ver-bunc'en wäre, fast unmöglich machen. Doch zeigte der bisherig Verlauf der Diskussion um die Wahlrechtsreform, daß bei den entscheidenden Instanzen kaum Bereitschaft besteht, vom Prinzip der Verhältniswahl abzugehen. Die Parteien besonders die SPÖ, scheinen nicht bere: t zu sein, das „gerechtere“ Pro-porzprinzip aufzugeben, obwohl gerade für die Mehrheitswahl dif Politikwissenschaft eine Möglichkeil gefunden hat, einer Partei mit einei Stimmenmehrheit auch eine Man-datsnehrheit zu garantieren*, eini Garantie, die weder das gegenwärtige Wahlrecht, noch die Vorschläge von SPÖ und ÖVP bieten.

Ein gemischtes Wahlsystem?

Was jedoch gerade von sozialistischer Seite in die Diskussion geworden wurde, ist das Wahlsystem der Bundesrepublik. Das westdeutsche Wahlsystem verbindet Elemente

der Verhältniswahl mit denen der Mehrheitswahl, insbesondere zwingt es den Wähler bei der relativen Mehrheitswahl in den Einmannwahlkreisen zu einer Entweder-Oder-Entscheidung zwischen den beiden großen Parteien. Der Proporzgrundsatz bleibt durch eine verhältnismäßige Anrechnung der Direktmandate auf die Listenmandate gewahrt. Der Unterschied zum Vorschlag der ÖVP besteht darin, daß jeder Wähler zwei Stimmen hat, eine für die Persönlichkeits- und eine für die Listenwahl, wodurch die Hälfte der Mandate nach den Grundsätzen der relativen Mehrheitswahl vergeben wird. Das würde für Österreich bedeuten, daß zwar durch das Wahlsystem selbst nicht unmittelbar ein Zweiparteiensystem entsteht, wohl aber eine Förderung der bereits bestehenden Tendenz zu einem Zweiparteiensystem durch das Entweder-Oder in den Einmannwahlkreisen zu erwarten sei.

Von sozialistischen Autoren bezeichnete Heinz Fischer in der „Zukunft“ (12/1964) das westdeutsche Wahlsystem als durchaus akzeptabel, und Norbert Leser forderte im „Forum“ (135/1965) ausdrücklich eine „Annäherung an das Mehrheits- und Persönlichkeitswahlrecht“. Könnten ÖVP und SPÖ sich auf ein solches Mischsystem einigen, so wäre das wirkliche eine Reform des Systems. Wenn schon die Forderung nach einer Mehrheitswahl britischen Typs nicht durchsetzbar sein sollte, so müßten wenigstens bestimmte Konstruktionselemente dieses Typs in die Wahlrechtsordnung eingebaut werden.

Zum Nutzen der Demokratie

Die österreichischen Parteien sind an die Wahlrechtsreform mit rein taktischen Motiven herangegangen. Für die Ausgangsposition der Poli-tike p aller Richtungen sind die Worte von Verkehrsminister Otto Probst signifikant: „Zuerst rechnet sich jeder die Sache genau durch, und das Ergebnis, das ihm am meisten nützt, ist dann das demokratischste System“ („Wochenpresse“ Nr. 29, 1964). Niemand wird von einem Politiker verlangen können, daß er sich für ein Wahlsystem einsetzt, das seiner Partei schadet. Die Mehrheitswald nützt mit ihrem Mechanismus aber beiden Großparteien, und auch der bloße Einbau von Elementen der Mehrheitswahl in ein gemischtes Wahlsystem hätte einen solchen, wenn auch stark abgeschwächten Effekt.

Was einer Reform des Wahlsystems, die nicht nur im bestehenden System einige Akzente ver-

schiebt, im übrigen aber die Bedeutung der Eigengesetzlichkeiten der Wahlsysteme übersieht, hinderlich ist, nannte Günther Nenning („österreichische Monatshefte“ Nr. 11/1963) die „panisch-österreichische Angst, nur ja keine kurzfristigen taktischen Vorteile aufzugeben, auch wenn es um langfristigen Nutzen für die Demokratie geht“. Dabei sollte man doch gerade in den demokratischen Großparteien wissen, daß ein Nutzen für die Demokratie auch ein Vorteil für die demokratischen Parteien ist, ohne die eine Demokratie nicht existieren kann.-Von dieser,Einsicht müßte eine Reform des Wahlrechtes getragen sein.

* F. A. Hermens: „Verfassungs-lehrfi“, Frankfurt am Main 1964, Seite 200: Ein mit der Mehrheitswahl verbundenes Listensystem kann jede entscheidende Verzerrung verhindern.

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