"Indien ist das Land des Neins"

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Indien lässt sich nicht leicht, nicht schnell verstehen. Es erschließt sich nur denen, die beharrlich dieses Ziel verfolgen. Aus dem "Nein"

wird zwar niemals ein "Ja" werden, meint Suketu Mehta, aber der Indien-Neuling wird einmal aufhören, Fragen zu stellen.

Menschen haben bei ihrem Zusammenleben dasselbe Problem wie Igel in einer kalten Nacht: Um der Wärme willen drängen sie sich aneinander, stechen sich und rücken wieder voneinander weg. Diese Bewegung wird solange wiederholt, bis die optimale Position erreicht, die maximale Wärme bei minimalen Schmerzen garantiert ist. Dieser Balanceakt zwischen Nähe und Distanz variiert von Kultur zu Kultur, schreiben Sudhir und Katharina Kakar in ihrem Buch "Die Inder - Porträt einer Gesellschaft". Anders als in der europäischen und nordamerikanischen Gesellschaft, stellt das Autorenduo aber fest, ist für die Inder "die optimale Position mit der Hinnahme größerer Schmerzen verbunden, um mehr Wärme zu erlangen".

Die Betonung der Verbundenheit allen Seins bestimmt den indischen Menschen, ist das Fazit von Sudhir und Katharina Kakar. Der Psychoanalytiker und die Religionswissenschafterin zeichnen mit ihrem Buch ein facettenreiches Porträt, "in dem sich Inder wiedererkennen und von anderen wiedererkannt werden" - zumindest für zweiteres lässt sich an dieser Stelle sagen: es funktioniert!

Den Einwand, sie würden mit ihrem "Gesamtbild" der Vielfalt von mehr als einer Milliarde Menschen, mit zig Sprachen und Identitäten nicht gerecht, entkräftet das Autorenduo mit ihrer Analyse, dass das Indisch-Sein der Einwohner des Subkontinents eine Art "Familienähnlichkeit" darstelle, von der schon Indiens erster Premier Nehru gemeint hat: "Die Einheit Indiens war für mich nicht nur ein politisches Programm, sie war eine emotionale Erfahrung, die mich überwältigte."

Trotz soviel Einheit wird das Buch der beiden Kakars von den zahlreichen Unterschieden zwischen Indern bestimmt: aufgrund des Kastenwesens, des Geschlechts, der Religion ... Und nach der Lektüre weiß man nicht nur mehr darüber, wie und warum Inder so ticken, wie sie ticken, sondern man lernt auch, das man in Indien seiner "Schicksalsbegrenzung", seinem karma nicht entfliehen kann: als Maus geboren wird man nur als Maus und unter Mäusen glücklich werden.

DIE INDER

Porträt einer Gesellschaft

Von Sudhir & Katharina Kakar,

Verlag C.H. Beck, München 2006, 206 Seiten, geb., e 20,50

Haiderabad, der Name einer indischen Provinzhauptstadt, steht hierzulande unverschuldet für das absolutistische Amtsverständnis des Kärntner Landeshauptmanns und seine Ortstafelpolitik - dass es einen Usurpator Haider im Indien um 1770 gegeben hat, der es fast zuwege gebracht hätte, die Briten auf dem Subkontinent in die Schranken zu weisen, erfährt man dafür in Hermann Kulkes und Dietmar Rothermunds "Geschichte Indiens". Gut 8000 Jahre, "von der Induskultur bis heute", finden da auf 500 Seiten Platz. Die beiden renommierten Indien-Spezialisten bemühten sich zwar, eine lesefreundliche Indien-Normalverbraucher-Geschichte ohne wissenschaftlichen Apparat herauszubringen, trotzdem ein Lesetipp, der den Einstieg in diesen historischen Parforceritt erleichtert: hinten, also heute anfangen; Haider Ali von Mysore kommt in jedem Fall in der Mitte.

GESCHICHTE INDIENS

Von der Induskultur bis heute

Von Hermann Kulke und Dietmar Rothermund, C.H. Beck, München 2006, 512 Seiten, brosch., e 20,50

Städte sind Tore zu allem möglichen: zu Geld, zu Macht, zu Träumen und Dämonen", schreibt Suketu Mehta in seinem Buch "Bombay - Maximum City". Für Suketu Mehta ist Bombay aber vor allem das Tor zu seiner Kindheit, seiner Herkunft, seinem Indisch-Sein. "Nachdem ich mit meinen Eltern nach New York umgezogen war, bekam ich das Gefühl, mit Bombay ein Organ meines Körpers verloren zu haben" - 21 Jahre später kehrt er zurück, sucht den verlorenen Teil seines Ichs und findet, wie es der Titel der amerikanischen Originalausgabe "Bombay Lost and Found" verspricht, beides: das Bombay in ihm und das Bombay draußen.

Das Bombay draußen ist die "Maximum City", eine der fünf größten Städte der Welt, in der mit 16 Millionen Menschen mehr Menschen leben als in Australien und wo sich in einigen Stadtteilen 400.000 Menschen auf einem Quadratkilometer drängeln. "Indien", so Mehta nach einigen Wochen bitterer Eingewöhnungszeit in seine neue, alte Heimat, "ist das Land des Neins. Dieses ,Nein' ist die Prüfung, der man unterzogen wird. Sie muß man bestehen. Das ,Nein' ist die Chinesische Mauer Indiens, es soll Invasoren aufhalten." Doch Suketu Mehta lässt sich nicht aufhalten, denn er weiß "die Schlacht von Bombay ist die Schlacht des einzelnen gegen die Masse" - in der die entscheidende Frage lautet: "Wieviel Wert schreibt man in einer Sechszehnmillionenstadt der Zahl Eins zu?"

Unendlich wertvoll lautet der Saldo bei Mehta für jedes Individuum: das Straßenkind, der hinduistische Fanatiker, die Parlamentsabgeordnete, der Profikiller, der Polizist, der Filmproduzent, die Bartänzerin ... "Ich habe am Rande der Bühne gesessen und als Bezahlung diese Seiten hier über sie regnen lassen. Und indem ich mich ihnen näherte, näherte ich mich meinem inneren Extrem, kam ihm näher denn je zuvor."

Bombay und Suketu Mehta - außen extrem, innen extrem, ein extremes Buch, das die Maximum City als Ansammlung von Millionen individueller Träume beschreibt, ein gleichsam erschreckender wie faszinierender "Massentraum der Menge".

BOMBAY - MAXIMUM CITY

Von Suketu Mehta, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, 782 Seiten, geb., e 27,60

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