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Einen Scheck im Wert von etwa 100.000 Schilling möchte - bildlich gesprochen - der Landessekretär des Wiener ÖAAB, Stefan Adler, künftig jedem Arbeitnehmer in die Hand drücken. Damit soll er während eines bestehenden Arbeitsverhältnisses die Möglichkeit erhalten, eine andere Ausbildung oder eine Weiterbildung, zeitlich gesplit-tet, in Anspruch zu nehmen. Dieser Bildungsscheck - es würde sich bei der Finanzierung um ein Umschichten von einem Sack in den anderen handeln, weil ältere Langzeitarbeitslose teurer kommen, als eine rechtzeitige Umschulung und Weiterbildung - soll vom Arbeitnehmer dann eingelöst werden können, wenn es ihm am besten paßt. Dieser Bildungsscheck müßte natürlich mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit als flankierende Maßnahme begleitet werden, „weil es sonst nicht funktioniert”. Stefan Adler an die Wirtschaft: „Man darf nicht immer nach besser qualifizierten Arbeitnehmern schreien und dann selber bessere Qualifikation verhindern.”

Das Grundbedürfnis nach Arbeit, das der ÖAAB Wien mit neuen Überlegungen erfüllen will — und zwar als gesellschaftliche Vorbedingung, die eine notwendige Flexibilität des Arbeitnehmers zur Folge

Die existenziellen

Probleme der Wiener möchte der ÖAAB-Wien mitlösen helfen. Man verzettelt sich nicht, man geht die Grundbedürfnisse an.

haben soll - wird besonders auf den Problemfeldern ältere Langzeitar-b'eitslose, unausgebildete Jugendliche und Behinderte durchdacht.

Mit dem Bildungsscheck soll also rechtzeitig der fatalen Entwicklung von älteren Langzeitarbeitslosen entgegengewirkt und auch ein flexibles Umsteigen ermöglicht werden. Adler: „Wir müssen diesen Menschen Sinn geben, die nicht verstehen, warum sie plötzlich am Arbeits-markt altes Eisen sind, nicht mehr dazugehören und nichts Produktives mehr leisten sollen. Wir benötigen die älteren Arbeitnehmer auch ihrer Erfahrung wegen; gerade in einer Zeit immer schnellerer technischer Entwicklung braucht man das Element der Kontinuität und Nachhaltigkeit.” Es sei sicherlich sinnvoll, Firmen, die ältere Arbeitslose einstellen, Vergünstigungen zu geben, beispielsweise ein Jahr lang 25 Prozent des Gehalts - mit der Verpflichtung, diesen Betrag zurückzahlen zu müssen, wenn sie den Arbeit-

nehmer innerhalb eines gewissen Zeitraumes entlassen.

Jugendliche mit abgebrochener Schulausbildung sollen durch moderne Lehrformen, wie dies manche Handelsakademien schon praktizierten, zum Einstieg in die „Schulbank” animiert werden. Die herkömmliche Ausbildungsform motiviert viele nicht mehr. „Daher muß ich die Ausbildung spannend machen. Das muß der Gesellschaft auch etwas wert sein. Deswegen kann ich mir vorstellen, daß man bei der Ausbildung verstärkt nach dem Modell der Lehrfirmen mit Computersimulation greift. Das

kostet etwas, -

natürlich. Aber es kostet viel mehr, wenn man beispielsweise auf dem Wiener Schwedenplatz drei Funkstreifen rund um die Uhr stehen haben muß, die aufpassen, daß Skinheads keine Telefonzelle zertrümmern”, betont Adler.

Für die Gruppe der Behinderten -viele von ihnen, meint der OAAB-Landessekretär, befänden sich völlig unnötig in geschützten Werkstätten - müsse ebenfalls auf dem Arbeitsplatz Wien etwas getan werden. Firmen sollten sich nicht mehr so billig

wie bisher von ihrer Verpflichtung freikaufen dürfen, Behinderte in einem bestimmten Ausmaß anstellen zu müssen. Adler: „Wenn das zur Kostenfrage wird, dann wird man Behinderten auch die Arbeit geben, die sie erfüllen können. Wir haben als Gesellschaft eine bestimmte Fürsorgepflicht - die Firmen dürfen wir aber dann auch nicht allein im Regen stehen lassen, sondern ihnen Hilfestellung zukommen lassen, beispielsweise bei technischen Einrichtungen für Behinderte.”

Wien sei momentan nicht imstande, das Grundbedürfnis Wohnen abzudecken. Einem Neubauwohnungsbedarf von 12.000 Wohnungen im Jahr stehen gegenwärtig 10.000 gebaute Wohnungen gegenüber - und dieses Programm laufe zudem heuer aus. Adler hält das für eine „klassische Dummheit”, man züchte damit Gewalt und soziale Probleme, die man nicht notwendig habe.

Einen Ansatzpunkt zur Lösung sieht der ÖAAB-Landessekretär in der Überprüfung Zehntausender leerstehender Sozialwohnungen, die manche für ihre Kinder noch behielten, obwohl sie es gar nicht mehr notwendig hätten und die für eine Sozialwohnung notwendige Bedürftigkeit gar nicht mehr gegeben sei. Die soziale Überprüfung muß regelmäßig geschehen, sagt Adler und meint, daß dies via Lohnsteuerveranlagung sehr leicht durchzuführen wäre. Gleichzeitig müßte auch durch

eine Änderung der Verwaltung zu einer Servicestelle erreicht werden, daß Sozialwohnungsinhaber leichter eine

frößere Wohnung aufgeben, wenn ie Kinder bereits ausgezogen sind, und sie daher diese nicht mehr benötigten. ,

Ein besonderes Grundbedürfnis stellt die Sehnsucht nach Sicherheit dar, die mit dem sicheren Arbeitsplatz und der sicheren Wohnung verzahnt ist. Wien braucht auch eine allgemein gesellschaftliche Sicherheit, die die Polizei allein nicht garantieren könne. Das hätten gerade die jüngsten Ereignisse in Österreich gezeigt, betont Stefan Adler. Es muß darum gehen, Jugendlichen Chancen zu bieten, in die Gesellschaft einzusteigen. Wenn manche Stufen zu hoch sind, siehe Ausbildungs- und Arbeitsplatzproblematik, „werden wir die Skinheadproblematik nicht in den Griff bekommen”. Polizeiliche Maßnahmen könnten nur Notwehrmaßnahmen sein, auf eine ganz konkrete Situation bezogen. Leider habe man in Wien beispielsweise die Abteilung Skorpion in Donaustadt geschlossen, die neue Wege der Vertrauensbildung zwischen Jugendlichen beziehungsweise der „Szene” und der Polizei beschritten habe. Wichtiger als den großen Lausehangriff und das manchmal notwendige Einschleusen von Undercover-Agen-ten hält Stefan Adler alle Maßnahmen, die sich ausgeschlossen fühlenden Mitmenschen zu integrieren.

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