6769039-1968_46_09.jpg
Digital In Arbeit

Japan wird Europas Rivale

Werbung
Werbung
Werbung

Die Sieger von 1945 hätten ungläubig den Kopf geschüttelt, wäre ihnen prophezeit ‘wöhden. daß knapp zwei ’ einhalb Jahrzehnte später die Gegner, die sie mit dein Aufgebot aller Kräfte niedergerungen und einem strengen Besatzungsregime unterworfen hatten, um den zweiten Platz unter den Industrienationen der Welt ringen würden: Deutschland und Japan. Dennoch ist es so. Nach einer Voraussohätzung des Bruttosozialprodukts beider Länder wird das Japans mit 553 Milliarden DM das deutsche von rund 500 Milliarden DM (125 Milliarden US-Dollar) überflügeln. Das ist zwar immer noch wenig mehr als ein Sechstel des amerikanischen Sozialprodukts, das weit über 3000 Milliarden DM (750 Milliarden US-Dollar) betragen wird, aber doch so beachtlich, daß man sidh in der Bundesrepublik Deutschland darüber Gedanken macht. Sie sind so ernst, daß das Bonner Wirtschaftsministerium an der Monatswende vom Oktober zum November seinen Staatssekretär, Dr. Klaus von Dohnanyi, mit einem Expertenstab ins ostasiatische Inselreich entsenden wird, um sich dort mit Fragen der Technologie, der Zukunftsindustrien, der Außenhandelsstrategie, überhaupt, wie eine süddeutsche Zeitung schreibt, den modernen, zukunftsträchtigen Methoden der industriellen Entwicklung zu befassen. Außer Beamten werden Herrn von Dohnanyi auch Industrielle begleiten.

Das japanische Dumping-„Wunder”

In Deutschland spricht man von einem „Wirtschaftswunder” der sechziger Jahre, das sich diesmal auf der anderen Seite der Erdkugel vollziehe. Weniger freundlich ausgedrückt heißt das: japanisches Export-Dumping. Der unvorhergesehene Rivale steht unbestritten an der Spitze des Schiffsbaus mit seinen Riesentankern, die alle Welt bei ihm kauft. In Deutschland, dessen Werften verzweifelt kämpfen, um aus dem Schatten der Konjunktur herauszukommen, in dem Sie immer noch stehen, ist man dafür besonders empfindlich. Auch die Kraftfahrzeugindustrie blickt nicht ohne Sorge auf die japanische Konkurrenz, deren Wagen allerdings bisher nur auf südostasiatiscben Straßen fahren. Der Staatssekretär des Bundesministeriums für Wissenchaftliche Forschung, Dr. Hans von Heppe, äußerte jüngst’vor der Soziälakädemiö’DÖrt-= mund, in Japan sei eine bewundernswerte technologische Entwicklung mit einem Minimum an gelenkter staatlicher Förderungstätigkeit für die Forschung erzielt worden.

Trifft es zu, daß Japan die Welt mit billigen, aber auch guten Waren überschwemmt? Photokameras und Transistorengeräte geben da kaum ein zutreffendes Bild. Das Bruttosozialprodukt, die Gesamtheit von Waren und Dienstleistungen, ist eine ziemlich abstrakte Größe. Es differiert stark mit dem Volkseinkommen, den in die Käufer- und Sparermassen fließenden Geldströmen. Im Außenhandelsvolumen (Aus- und Einfuhr) kam Japan 1967 mit 88 Milliarden DM (22 Milliarden US- Dollar) erst auf den fünften Platz; den zweiten hielt mit 156 Milliarden DM die Bundesrepublik Deutschland. Ihr Anteil am Außenhandel der westlichen Welt betrug 10 Prozenit, der japanische 5,6 Prozent. Nun hat das Inselreich rund 100 Millionen Einwohner, um 40 Millionen mehr als die Bundesrepublik Deutschland. Der Lebensstandard — und damit das Volkseinkommen — ist vergleichsweise niedrig. Um dem abzuhelfen, bauen die Japaner ihre inländischen Produktionsbetriebe aus. Das Ziel ist also eine Steigerung des privaten Verbrauchs — und das heißt: höhere Löhne. Damit werden natürlich auch die Preise steigen. Japan wird dann die Sorgen der Europäer mit den steigenden Kosten kennenlernen.

Die stabilsten Verbraucherpreise

Demgegenüber hat die Europäische Organisation für Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) eben erst der Bundesrepublik Deutschland in einem neuesten Vergleich wirtschaftlicher Daten bescheinigt, daß sie in der Stabilität der Verbraucherpreise 1968 wie schon 1967 an der Spitze steht. In diesem April war in Deutschland die Lebenshaltung nur um ein Prozent teurer als im gleichen Monat des Vorjahres. In Italien, das in der OECD an die zweite Stelle kam, waren es 1,9 Prozent, in Schweden 2,2, in Belgien 2,8, in Österreich 3,1 und in der Schweiz 3,2. Der Preisauftrieb betrug in den Vereinigten Staaten und Frankreichjeweils 4, in England 4,4 und in Japan 5,2 Prozent.

Der unvorhergesehene Rivale, das Schreckgespenst deutscher Exporteure, gehört überdies zu den Ländern mit starkem Zahlungsbilanzdefizit. Er muß, nach einer Berechnung der Londoner „Times”, zusammen mit den Vereinigten Staaten und England die Zahlungsbilanz um 140 Milliarden DM (35 Milliarden US-Dollar) verbessern. Das spricht freilich mehr für als gegen eine japanische Exportoffensive von enormem Ausmaß. Die Angleichung der Produktionskosten an europäische Maßstäbe, die die Vorbedingung für die Schaffung eines ergiebigen Binnenmarktes ist, wird es Tokio aber unmöglich machen, weiter so billig wie bisher zu liefern. Die Bundesrepublik Deutschland hat es in der Hand, durch Pflege ihrer Exportmärkte den zweiten Platz in der Industriewelt zu behaupten oder wieder zu erobern. Hier hat sie immer noch einen Vorsprung vor allen anderen europäischen Ländern. Hinzu kommt, daß, wie sich aus obiger Statistik der OECD schließen läßt, die Kosten in Deutschland nicht mehr so wachsen werden wie bisher, auf jeden Fall nicht vergleichbar mit den japanischen. Die Bundesrepublik muß nicht erst einen Binnenmarkt schaffen, sie hat ihn bereits. Und wenn sie auch auf den Export angewiesen ist, um überleben zu können, so gilt das für Japan, wo die Bevölkerungsexplosion ganz andere Formen ‘angenommen hat, erst recht.

Die Realitäten lassen das angebliche Schreckgespenst als nicht ganz so schrecklich erscheinen, wie es Leute machen wollen, die bei jedem schärferen Wind der Konjunktur gleich nach Staatshilfe und dirigistischen Maßregeln rufen. In der Wirtschaft ist eben ein einmal erreichtes Niveau ständig bedroht. Die anderen schlafen nämlich auch nicht. Der plötzlich aufgetauchte Konkurrent stellt schon, auch wenn man alle Übertreibungen abstreicht, eine Herausforderung für die deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik dar. Das ist aber nicht einmal schlecht, wenn es zur Besinnung auf die eigenen Kräfte und Grenzen führt. Und dazu hilft nicht wenig das ausgezeichnete Verhältnis, das zwischen Bonn und Tokio sich stabilisiert hat.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung