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Jenseits von Markt und Staat

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Soziale Wohlfahrt ist mehr als die staatliche Überweisung der Pension. Politik muß den Bürgern die Möglichkeit für soziales Engagement bieten.

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Soziale Wohlfahrt ist mehr als die staatliche Überweisung der Pension. Politik muß den Bürgern die Möglichkeit für soziales Engagement bieten.

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Verfolgt man die sozialpolitischen Debatten in Österreich, so entsteht meist der Eindruck, daß staatliche Sozialausgaben die einzige Quelle für individuelles Wohlergehen, allgemeine Wohlfahrt und gesellschaftlichen Zusammenhalt seien. Auch die Parolen über „mehr Markt - weniger Staat" sind in diesem Zusammenhang wenig hilfreich, da sie Besserung allein durch die „ordnende Hand des Marktes" versprechen. In Wirklichkeit sind ganz verschiedene Wirtschaftsprinzipien, unterschiedliche Träger und eine Vielzahl von Organisationsformen am Werk, wenn es beispielsweise um die Produktion sozialer Wohlfahrt geht.

Diese Pluralität ist nicht neu. Spätestens seit der Auflösung dessen, was in Agrargesellschaften als Subsistenz-wirtschaft oder „Ökonomie des ganzen Hauses" bezeichnet wurde, wurden soziale Dienstleistungen, finanzielle Hilfen und Sachleistungen, aber auch Solidarität und gesellschaftliche Integration von mehr als nur einem Teil der Gesellschaft organisiert, geschweige denn allein „vom Staat": Familie und Haushaltsarbeit, ehrenamtliche Tätigkeiten in Genossenschaften, Vereinen und sozialen Initiativen, zum Teil auch betriebliche Sozialleistungen sind seit über hundert Jahren die Basis gesellschaftlicher Wohlfahrt. Allein die Verkürzung ökonomischer Theorien und sozialpolitischer Praxis auf die scheinbar unaufhaltsame, ungestaltbare Globalisierung der Marktwirtschaft und die steigenden Anteile staatlicher Sozialausgaben schien dieses Faktum aus dem Blickfeld geraten zu lassen.

Es gibt allerdings seit einigen Jahren eine zunehmend lebendige Debatte, die im Rahmen von Veränderungen des allgemeinen politischen Kontextes den Bereichen „jenseits von Markt und Staat" größere Aufmerksamkeit widmet. Einerseits betrifft dies den sogenannten „Dritten Sektor", zum Beipspiel in Form nichtstaatlicher, Non-Profit Organisationen, und Konzepte einer neuen „ Bürgergesellschaft". Andererseits führt die Pluralisierung von Familie und Haushalt zur Re-Problematisie-rung von Begriffen wie Gemeinschaftlichkeit, „kleine Netze" und Selbstorganisation. Es ist zu beobachten, daß sich die sozialpolitischen Debatten in vielen Ländern Europas und Nordamerikas in diesem Zusammenhang sowohl konzeptuell als auch normativ' in verstärktem Maße am Leitbild der „gemischten Wohlfahrtsökonomie" orientieren. In Österreich, wo es ebenfalls einen ausgeprägten Wohlfahrtsmix gibt, allerdings noch keine explizite Entwicklungsstrategie, wird es in den kommenden Jahren darum gehen, die vorhandenen „Mischungsverhältnisse" aktiv zu modernisieren.

Zur Beschreibung und Analyse all dessen, was insgesamt zur Produktion sozialer Wohlfahrt beiträgt, wurde am Europäischen Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung auf Basis vor allem angelsächsischer Theorieansätze das Konzept des Wohlfahrtsdreiecks (siehe Abbildung) entwickelt. Am Beispiel der Erbringung von Pflegeleistungen kann dieses Konzept sehr einfach illustriert werden.

■ Die privaten Haushalte: fast überall werden zwischen 60 und 80 Prozent aller Pflegeleistungen innerfamiliär, meist von Frauen, erbracht. Nahe dieses Eckpunktes sind Nachbarschaftshilfe und andere informelle Unterstützungsbeziehungen anzusiedeln.

■ Staatliche Institutionen tragen durch gesetzliche Begelungen, Geld-und/oder Sachleistungen zur Absicherung hilfe- und pflegebedürftiger Personen bei (soziale Dienste, Heime, medizinische Versorgung, Pflegegeld, Pensionen, Benten).

■ Am Markt werden beispielsweise durch Investmentfonds erbaute Pflegeheime oder Seniorenresidenzen angeboten; in steigendem Ausmaß treten auch kommerzielle Anbieter sozialer Dienstleistungen auf.

■ Schließlich werden im „intermediären" oder „Dritten" Sektor (Fläche des Dreiecks) zum Beispiel auch soziale Dienste von Sozialinitiativen, Genossenschaften und Wohlfahrtsvereinen organisiert.

Das Wohlfahrtsdreieck (Evers/ Wintersberger, 1990), dessen Eckpunkte Staat, Markt und Haushalte (Familien) bilden, visualisert die öffentliche Sphäre der „Bürger gesell-schaft" als eigentliches Spannungsfeld von Sozialpolitik. Die Akteure in diesem Bereich sind jeweils mehr oder weniger den ökonomischen Prinzipien des Marktes (Profitorientierung), des Staates (Umverteilung) oder des Haushaltes (Hilfe auf Gegenseitigkeit) verpflichtet, wobei verschiedene Misehformen zu beobachten sind. Deshalb ist hier auch der Ort, wo wichtige Wertorientierungen entstehen (Stichworte: Gemeinschaftlichkeit, Solidarität, Bürgerschaftlich-keit, Partizipation), die es ernstzunehmen gilt, weil sie eben in den anderen Sektoren gerade nicht entstehen.

Der „Wohlfahrtsmix" ist in seinen unterschiedlichen Mischungsverhältnissen in verschiedenen Ländern und Sozialpolitikbereichen von kulturellen, historischen und politischen Traditionen geprägt. Über deren reine Wahrnehmung und Beschreibung hinaus geht es nun vor allem darum zu überlegen, welche Bollen, Verantwortlichkeiten und Pflichten die jeweiligen Akteure sinnvollerweise annehmen können, um einander ergänzend zu stützen.

Bleiben wir im Bereich der Pflege. Die Strategie, Familien (Frauen) weiterhin nur als „natürliche", unbezahlte Bessource für Pflegetätigkeiten zu nutzen, ist weder sozial gerecht noch zielführend. Aber auch eine völlige Professionalisierung von Hilfe und Pflege hat wenig Aussicht auf Verwirklichung (sie wird im übrigen auch von den Betroffenen abgelehnt). Um die Pflege „zu Hause" sicherzustellen, müssen einerseits Bahmenbe-dingungen geschaffen werden, die das „soziale Kapital" gegenseitiger Hilfe - in den Familien, der Nachbarschaft, im Bahmen von Selbsthilfegruppen und anderen Sozialinitiativen - zumindest nicht gefährden.

Dazu bedarf es der expliziten Unterstützung beziehungsweise Entlastung jener, die Wohlfahrt vor Ort produzieren. Pflegegeld ist ein Anfang, entlastende Dienste (Beratung, Tages- und Kurzzeitpflege), soziale Absicherung von Pflegenden, Ausbau von Pflegeurlaub, wären weitere Schritte. Organisatorisch wäre dabei eine Stärkung von Marktelementen (zum Beispiel gleiche Chancen für alle Anbieter, Qualitätskriterien) dann sinnvoll, wenn die Besonderheiten sozialer Dienste berücksichtigt werden.

Daß bei einer Modernisierung des Mischungsverhältnisses im „Wohlfahrtsmix" der Staat weniger als Organisator, sondern vor allem als Be-gulator gefragt ist, hat sich in vielen Ländern Europas bereits herumgesprochen. Der „Dritte Sektor" ist dem staatlichen Angebot vor allem dann überlegen, wenn es um die spontane, flexible Beaktion auf „neue" Anforderungen oder um die Herstellung von Vertrauensbeziehungen (wie in der Kinderbetreuung oder Altenhilfe) geht. Beispielsweise waren es in den meisten Ländern lokale Selbsthilfeinitiativen, die als erste auf die sozialen Betreuungsbedürfnisse von AIDS-Kranken reagiert haben. Auch bei der Aktivierung von ehrenamtlicher Tätigkeit und im Bereich der Gesundheitsförderung erhalten die Netzwerke organisierter Selbsthilfe immer stärkere Belevanz im Bahmen öffentlicher Förderungs- und Unterstützungsprogramme. Schließlich tritt mit Blick auf die „Krise des Sozialversicherungsstaates" auch bei sozialen Geldleistungen die Wichtigkeit innerfamiliärer Umverteilung (neben Erwerbseinkommen und staatlichen Transfers) in den Mittelpunkt des Interesses.

Bei der Lösung der gegenwärtig und in Zukunft wichtigsten sozial-und gesundheitspolitischen Probleme (Pflegebedürftigkeit, Pensionen, AIDS, Spitäler, Ausländerpolitik, Kinderbetreuung) steht die Kombination von staatlichen mit nicht-staatlichen Angeboten auf der Tagesordnung - die Schaffung neuer Wohlfahrtsmixturen unter Nutzung der jeweiligen Vorteile staatlicher Träger, marktwirtschaftlicher Elemente (soziales Management, pu-blic-private partner-ship) und zivilgesellschaftlicher Akteure. Selbst jene, denen es vor allem um die Bea-lisierung von Einsparungspotentialen geht, denken dabei nicht allein in Alternativen von „Staat" und „Markt", sondern beziehen die qualitativen Vorteile des „Dritten Sektors" und familiärer Netze mit ein.

■ In Schweden wurden beispielsweise im Bahmen von Beformen im Ge-sundheits- und Altenhilfesysteme „interne Märkte" geschaffen, Dienstleistungen mittels Ausschreibung privatisiert, gleichzeitig aber staatliche Garantien für ein „Becht auf Pflege" sowie Bahmenbedingungen zur Qualitätssicherung geschaffen.

■ Auch in den Niederlanden wurden die Staatsfunktionen im Bahmen von Verwaltungsreformen neu formuliert. Die Erbringung von Diensten durch staatliche Träger wurde weitgehend abgebaut und durch staatliche Qualitätskontrolle und Marktregulierung ersetzt. Gleichzeitig wurden, zum Beispiel im Bereich der Kinderbetreuung, Rechte und Pflichten der Unternehmer (steuermindernde Kostenbeteiligung) und der Arbeitnehmer/innen (Becht auf Betreuungsplatz), der Gemeinden und des Staates (Subventionen, Investitionskapital) neu geregelt und die Mitspracherechte der Nutzer verbessert.

■ In vielen Ländern setzen innovative Sozialreformen weniger auf „Subsidiarität" (wenn informelle Netze versagen, treten jeweils höherrangige Hilfesysteme auf den Plan), als auf komplementäre, dann meist auch präventiv wirkende Leistungspakete, die auf informelle Netze und das bestehende Lebensumfeld Bücksicht nehmen.

Ziel kann es nämlich nicht sein, den „Dritten Sektor" entweder weiter zu verstaatlichen oder unter Hinweis auf reine Effizienzkriterien zu vermarktlichen. Die Stärkung von Marktelementen kann nur Teil eines Beformpakets sein. Die aktive Entwicklung einer wohlfahrtspluralisti-schen Sozialpolitik, die sich der Solidaritätsbereitschaft nicht nur in-strumentell bedient, sondern soziales Engagement und Bürgerschaftlich-keit überhaupt erst ermöglicht, muß verhandelt werden: Welche Instrumente der „indirekten Steuerung" können eingesetzt werden? Wie können Bürgerinnen und Bürger in die Lage versetzt werden, sich an dieser politischen Debatte und insbesondere in den sie betreffenden Bereichen zu beteiligen, sei es als Staatsbürger/in, als Nutzer/in sozialer Dienstleistungen oder als ehrenamtlich Tätige/r? Warum gibt es hierzulande zum Beispiel noch keine Bürgerbüros und nur wenige Mitspracheforen für spezifische Gruppen?

Soziale Wohlfahrtspolitik heute ist mehr als Pensionsanpassung und das Überweisen von Arbeitslosengeld. In Zukunft muß sie noch viel mehr eine „Ermöglichungspolitik" werden -eine Politik, die Bürgerschaftlichkeit ernst nimmt. Sparen hilft da freilich nur, wenn vorher investiert wurde und „soziales Kapital" nicht für Spekulationen mißbraucht wird.

Der Autor ist

Politikwissenschaftler und arbeitet am Europäischen Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung im Forschungsbereich „Altern, Pflegepolitik und soziale Dienste " in Wien.

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