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Jetzt Krankenkassenreform?

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Schon drei Jahre nach der „Sanierung“ der ASVG-Kranken-kassen (Gebietskrankenkassen, Betriebskrankenkassen, Landwirtschaftskrankenkassen, Versicherungsanstalt der Eisenbahnen und Versicherungsanstalt des Bergbaues) durch die 21. Novelle wird wieder eine Sanierung notwendig. Hatte man 1967 einen Abgang von 30 Millionen geschätzt, so erwartet man für 1970 schon 180 Millionen — nach den ursprünglichen Voranschlägen waren es sogar 250 Millionen. Für 1971 rechnet man mit einem Defizit von rund 600 Millionen.

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Schon drei Jahre nach der „Sanierung“ der ASVG-Kranken-kassen (Gebietskrankenkassen, Betriebskrankenkassen, Landwirtschaftskrankenkassen, Versicherungsanstalt der Eisenbahnen und Versicherungsanstalt des Bergbaues) durch die 21. Novelle wird wieder eine Sanierung notwendig. Hatte man 1967 einen Abgang von 30 Millionen geschätzt, so erwartet man für 1970 schon 180 Millionen — nach den ursprünglichen Voranschlägen waren es sogar 250 Millionen. Für 1971 rechnet man mit einem Defizit von rund 600 Millionen.

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Die Situation ist also ernst, sehr ernst. Es liegt in der Natur der Sache, daß im Falle einer so gewaltigen Diskrepanz zwischen Einnahmen und Ausgaben kurzfristig nur über die Erhöhung der Einnahmen eine Besserung herbeigeführt werden kann. Ausgabensenkende Maßnahmen bedürfen längerer Überlegungen, schwieriger Verhandlungen und brauchen ihre Zeit, ehe sie wirksam zu Buche schlagen.

Also sieht der Entwurf der 25. Novelle die Erhöhung der Höchstbei-tragsgrundlage von 4050,— Schilling monatlich auf 4800,— Schilling monatlich, die Erhöhung der Rezeptgebühr von 4,— Schilling auf 5,— Schilling pro Verschreibung und — für die Versicherten weniger bedeutsam — die Erhöhung des von der Unfallversicherung zu leistenden Pauschalbetrages für Behandlungskosten nach Arbeitsunfällen von 126 Millionen Schilling auf 173 Millionen Schilling pro Jahr sowie eine Erhöhung des Beitragssatzes zur Krankenversicherung der Pensionisten von 9,25 v. H. auf 9,75 v. H. des Pensionsaufwandes vor. Rund 600.000 Arbeiter und rund 440.000 Angestellte werden zur Kasse gebeten und um höchstens 27,40 Schilling, beziehungsweise 18,— Schilling monatlich erleichtert. Der Dienstgeber hat sich mit dem gleichen Betrag zu beteiligen. Daraus erwartet sich Sozialminister Häuser Mehreinnahmen von 555 Millionen, von denen allerdings sofort für die mit der Höchstbeitragsgrund-lage steigenden Geldleistungen 118 Millionen abzurechnen sind. Die restlichen 437 Millionen sollen den Kassen für 1971 einen Gebarungsüberschuß von 70 Millionen bringen. Allerdings sind in dieser Rechnung auch Zuschüsse und Zuwendungen aus dem Ausgleichsfonds in der Höhe von 78 Millionen enthalten. Diesen zusätzlichen Einnahmen allein ist es also zu danken, daß nicht schon in den Voranschlägen für 1971 ein Abgang aufscheint. Dazu dürfte noch auf der Ausgabenseite einiges fehlen. Mit den Mehreinnahmen steigen zum Teil automatisch die Arzthonorare. Wo dies nicht der Fall ist, werden sich die Ärztekammern das Argument nicht entgehen lassen, daß von dem größer gewordenen Kuchen auch für die Ärzteschaft ein größeres Stück abfallen müsse. Und daß die Krankenanstalten — sie erwarten einen Abgang von 2,5 bis 3 Milliarden — besser dotiert werden sollen, wurde schon lautstark gefordert und vom Hauptverband der Sozialversicherungsträger in Aussicht gestellt. Wie weit dies alles in den Voranschlägen berücksichtigt ist, ist nicht ganz durchschaubar. Jedenfalls lehrt die Erfahrung, daß die Ausgaben eher zu niedrig geschätzt sind.“

Das gesamte System der Krankenkassen muß dabei von Grund aul neu überdacht werden. Die Voraus-

Setzungen sind heute nun einmal andere als jene zur Zeit der Einrichtung der Kassen. Die Organisationsform darf dabei ebensowenig tabu sein wie die sachliche und regionale Gliederung. Die Frage der Versicherungspflicht kann nicht aus dem Blickwinkel gesellschaftlicher Strukturen aus dem vorigen Jahrhundert gelöst werden. Methoden, welche die Eigenverantwortung der Patienten heben und eine Konzentration auf das Notwendige erhoffen lassen, darf man, meint man es mit der Sanierung wirklich ernst —, nicht als Anschlag auf die Volksgesundheit verteufeln. Wer — von Ausnahmen, die entsprechend berücksichtigt werden können, abgesehen — nicht bereit ist, für seine Gesundheit wenigstens einen Teil jenes Betrages aufzuwenden, den er etwa für die Instandhaltung seines Wagens zur Verfügung stellt, dem fehlt es an Verantwortungsbewußtsein und an einer echten Wertvorstellung. Die Ärzteschaft hat sich zum überwiegenden Teil gegenüber einer Einstellung behauptet, die sie als Erfüllungsgehilfen der Krankenkasse und Medizinalibeamte angesehen hat, ein kleiner Teil hat sich arrangiert und stellt in der Behandlung die Quantität über die Qualität. Wo beides nicht möglich war — wie in vielen Landgebieten — fehlt der Arzt überhaupt. Das Heil kann nur in einem Honorierungssystem liegen, welches das alte Hausarztprinzip in zeitgemäßer Form wieder herstellt. Von dieser Seite aus muß auch die Krankenanstalten-Misere angegangen werden. Eine effektivere ambulante Behandlung, einschließlich einer ausreichenden — und von den Krankenanstalten anzuerkennenden — anamnestischen Vorbereitung, kann die Verweildauer und die Häufigkeit der Spitalsaufenthalte entscheidend verändern. Eine moderne Betriebsführung und eine medizinisch zweckmäßige, vom Prestigedenken ebensowenig wie von sozialramantischen Einheitsklassenträumen beeinflußte Ausrüstung und Einrichtung sollten es möglich machen, daß das Land mit den meisten Spitalsbetten pro 1000 Einwohner auch für jeden wirklich Spitalsbedürftigen ein Bett zur Verfügung hat, ohne dabei finanziell zu verbluten. Der Fragen und Probleme sind viele, ihre wirtschaftliche und politische Bedeutung wiegt schwer. Die Aufgabe scheint lösbar, wenn man erkennt, daß es nicht ein „Recht auf Krankheit“ sondern das „Recht auf Gesundheit“, verbunden mit der Verpflichtung zu einer echten Solidarität — die auch eine zumutbare eigene Leistung einschließt — zu sichern gilt. Ein einziges Jahr ist allerdings hiefür eine kurze Frist. Es gilt also, rasch zu handeln.

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