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Kritischer Punkt?
DIEFURCHE: ÖGB-Präsident Verzet- nitsch meinte, der Staat müsse jeden Prozentsatz an Arbeitslosigkeit finanzieren Man könne die Leute nicht einfach verhungern lassen 15 Prozent wären so gesehen für ihn durchaus verkraftbar. Sind wir wirklich so reich, daß das kein Problem ist?
PROFESSOR ERICH STREISSEER: Was heißt kein Problem? Arbeitslosigkeit ist erstens einmal menschliches Elend und
zweitens Zerstörung von
Humankapital.
Zur Finanzierung gebe ich die Frage zurück. Wären Sie bereit, 15 Prozent Ihres
Gehaltes herzugeben? Was heißt außerdem, Österreich ist reich genug? Das ist ein höchst unklarer Begriff. Wir verhungern nicht, wenn wir so viele Arbeitslose erhalten müßten. Aber es würde ungeheure soziale Spannungen hervorrufen, wenn man die Sozialquote am Volkseinkommen, in weiterem Sinne also die Steuerquote, um 15 Prozentpunkte erhöhen würde.
Im übrigen verstehe ich die Feststellung nicht ganz. Wir zeichnen uns doch dadurch aus, daß sich in Österreich die’ Arbeitslosigkeit fast nicht verändert. Wir haben 1993, in der schwersten Rezession der Nachkriegszeit, kaum zusätzliche Arbeitslose bekommen. Der Anstieg im Laufe der letzten 1 1/4 Jahre war ein Prozent und heuer ist wieder mit einem zusätzlichen halben Prozent zu rechnen. Wir haben immer noch eine der niedrigsten Arbeitslosigkeitsraten in Europa. Ich verstehe solche Spekulationen nicht. Wir können 15 Prozent Arbeitslose höchstens bekommen, wenn die EU-Abstimmung daneben geht. Ich nehme aber nicht an, daß der Präsident des ÖGB das will. Außerdem ist er zu fragen, ob er weitere zehn Prozent Haider-Wähler haben will.
DIEFURCHE: Gibt es eine für die Volkswirtschaft „kritische“ Arbeitslo- senquote?
STREISSLER: ES gibt weder bei Staatsbudgets noch bei Arbeitslosen einen eindeutigen kritischen Punkt. Aber bei 15 Prozent Arbeitslosigkeit hätte Österreich ein ganz anderes Sozialsystem. Die österreichische Gesellschaft würde sich noch weiter entso- lidarisieren und aufspalten in Besitzende, vor allem Arbeitsplatz-Besitzende auf der einen und verzweifelte Habenichtse auf der anderen Seite, in Zahlungsunwillige einerseits und Unterstützungsempfänger andererseits. Ganz zu schweigen vom unvermeidlichen Anstieg der Kriminalität …
DIEFURCHE: Es heißt, wir werden ein „jobless growth“ haben, also Wachstum ohne große Beschäftigungseffekte. Wird die Arbeitslosigkeit steigen? STREISSLER: Diese Frage ist so falsch gestellt. Denn man muß auch fragen, wie sich die Zahl der Selbständigen entwickelt. Gerade in der gegenwärtigen Situation ist es sehr wahrscheinlich, daß wir mehr Selbständige bekommen beziehungsweise Semi-Selbständige, das heißt, Werkvertragstätige. Außerdem ist es keineswegs so, daß wir ein „jobless growth“ hätten. Es ist gerade in Österreich erkennbar, daß zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten in zahlreichen Beratungs- und Planungsberufen, nicht zuletzt für die ostmitteleuropäischen Staaten entstehen.
Mit Professor Erich Streissler vom Institut für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Wien sprach Elfi Thiemer.
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