Land der Brüche und Spannungen

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Mehr Fremdenbetten in Tirol als in Griechenland, mehr Transit über den Brenner als über andere Alpenpässe: Tirol im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichem Erfolg und Erhaltung der Umweltqualität.

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Mehr Fremdenbetten in Tirol als in Griechenland, mehr Transit über den Brenner als über andere Alpenpässe: Tirol im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichem Erfolg und Erhaltung der Umweltqualität.

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Tirol, das Land im Gebirge, ist ein Lebens- und Wirtschaftsraum, der einem gewaltigen Veränderungsdruck ausgesetzt ist. Einerseits spielen die Entwicklungen auf dem globalen Tourismusmarkt eine große Rolle und diktieren das Geschehen, zum anderen bahnt sich die EU-Verkehrspolitik unerbittlich ihren Weg durch Tirol.

All diese Entwicklungen benötigen entsprechende Flächen für Verkehr, Wirtschaft und Siedlungstätigkeiten. Aufgrund der Unwirtlichkeit der Gebirgsregionen beschränkt sich die Fläche, die mit vertretbarem Aufwand bebaut werden kann, auf sechs Prozent der Landesfläche. Mit einer Bevölkerungsdichte, die im Europäischen Spitzenfeld liegt. Es ist klar, daß in dieser dynamischen Verdichtung die Fragen der Raumordnung einen zentralen Stellenwert für die Zukunft des Landes haben. In Tirol wurden in den vergangenen 40 Jahren mehr Gebäude errichtet als in der gesamten Geschichte des Landes vorher. Tirol besitzt mehr Fremdenbetten als ganz Griechenland.

Tirol ist zu einem Land der Brüche und Spannungen geworden: Vom kristallklaren Quellwasser bis zu den Qualen des Transitverkehrs im Inntal, von der technisch hoch aufgerüsteten Wintersportindustrie bis zu einsamen Touren in weiß verschneite Berge; vom kleinen Familienbetrieb bis zur Hochtechnologie führender Industriebetriebe; von der einklassigen Bergvolksschule bis zur Landesuniversität mit internationalen Kontakten und schließlich von Flächen der Verwilderung bis zur gepflegten Kulturlandschaft.

Noch immer besitzt das Land herrliche Naturregionen, es gibt jedoch auch eine Kehrseite der enormen Wirtschaftsentwicklung.

Die Kontraste könnten nicht größer sein. Einerseits sind es die gewaltigen Naturkräfte, die die Landschaft formten und noch immer formen (Muren, Lawinenabgänge, Felsstürze, Hochwasser) und Menschen bedrohen, andererseits sind sie Teil eines beglückenden Naturerlebnisses, einerseits haben die Menschen über Jahrhunderte hinweg diesem rauhen Land nachhaltig eine Kulturlandschaft abgerungen, andererseits erreichen die Belastungen, die der Mensch in den Ballungsräumen sich selbst zufügt (Verkehr, Verunstaltungen, Verlärmung, Verschmutzungen der Luft ...) ein gesundheitsgefährdendes Ausmaß.

Da kann der Herr Präsident der Wirtschaftskammer in einer Jubelschrift noch so laut beschwören: "Die Lebensqualität ist bei uns hoch: Tirol, ein Land zum L(i)eben", er kommt um die Tatsachen nicht herum, daß etwa im Inntal EU-Luftgrenzwerte (NOx) und Vorsorgewerte der Ozonbelastungen um bis zu 40 Prozent überschritten werden und daß es Anfang Dezember 1999 einen 40 Kilometer langen Blechwurm von Schwaz bis Schönberg gab. "In neun Stunden drängten fast 3.200 Lkw in Richtung Süden", titelten die Tageszeitungen. Prompt reagierten die Luftschadstoffe mit einer Überschreitung der Vorsorgegrenzwerte um 20 Prozent. Das Inntal ist der dichtest besiedelte Lebens- und Wirtschaftsraum Tirols, verlärmt, zersiedelt, von Abgasen bedroht.

Dicke Luft im Inntal Spätestens seit den Untersuchungen für die Umweltverträglichkeitsprüfung der neuen Eisenbahntrasse im Unterinntal, weiß man um die aktuellen Grenzwertüberschreitungen. Sie wurden den zuständigen Politikern bereits vorgestellt. Solche Fakten werden aber nicht geschätzt, weil sie die Jubelstimmung und das Image des Landes stören. Die Raumordnung müßte hier sofort reagieren und das schon längst fällige Entwicklungskonzept für das Inntal erstellen.

Vielfach sind die Belastungen durch den Verkehr hausgemacht (Pendler, Tagesausflugsverkehr zu den Wintersportorten im vorderen Zillertal und im Kitzbühler Raum). Die Raumordnung beschränkt sich auf örtliche Raumordnungskonzepte, zementiert so die Kirchturmpolitik. Wirksame gemeindeübergreifende Überlegungen zur Raumentwicklung gibt es kaum. Die überörtliche Raumordnung ist praktisch abgetreten. Der öffentliche Personennahverkehr wird nicht als Teil der Raumordnung gesehen. So verstopfen Tausende Einpendler nach Innsbruck gemeinsam mit den Transit-Lkws die Autobahn oft zweimal am Tag. Der Ruf nach der dritten Spur ertönt auch zunehmend im eigenen Land.

Zurück zu den örtlichen Raumordnungskonzepten. Hier drängt sich sofort folgende Frage auf: Werden diese ernst genommen oder sind sie nur ein Stück Papier? Jedenfalls sollten sie bis Ende dieses Jahres in allen Gemeinden fertig gestellt sein. Dieses Ziel wurde bei weitem nicht erreicht. Man darf gespannt sein, ob die angekündigten Sanktionen (Widmungsstopp und so weiter) politisch durchgesetzt werden können. Die Behörden kommen in Bedrängnis, weil sie ja das Gesetz vollziehen müssen, tun sie es nicht, droht der Staatsanwalt.

Ob die örtlichen Raumordnungskonzepte dem derzeitigen Widmungsdruck standhalten können, ist eine andere Frage. In den letzten drei Jahren wurde rund 4.000.000 m2 in Freiland (Sonderflächen) umgewidmet und bebaut. Bei einem Durchschnittspreis von öS 2.500,- /m2 entspricht das einer "wunderbaren" Wertschöpfung von rund zehn Milliarden Schilling, in Wahlzeiten ein sehr effizienter Planungsakt.

Derzeit kommt jeder zu seinem Wunschgrundstück, wenn er Arbeitsplätze anbieten kann, die Größe der Fläche, Flächenausnützung, spielen dabei keine Rolle. Bei jeder Wohnsiedlung werden Tiefgaragen etc. verlangt. Betriebe hingegen können sich mit Parkplätzen und niedrigen Gebäuden satt ausbreiten, eine Ausnützung des Raumes über dem Betriebsgebäude wird nicht angedacht. Von vielen Bürgermeistern hört man die Formel: "Gewerbegebiet ja, Siedlungsgebiete nein. Erstere bringen, letztere kosten Geld."

Bodenspekulation Bauland ist an und für sich genug ausgewiesen, nur kommt es nicht auf den Markt. Jeder Versuch, durch Widmungsabgaben oder Rückwidmungen der Baulandhortung zu begegnen, wird von den Tiroler Bauern sofort abgeblockt.

Die alte Zielbindung der Nahrungsmittelversorgung wurde durch den internationalen Agrarmarkt zerschlagen. Neue Möglichkeiten und Perspektiven für die Bauern, die es sicherlich gibt, sind noch nicht so attraktiv, daß sie zu einer tragenden Vision wurden. Agrarflächen werden damit für andere Nutzungen verfügbar. Die Landschaft wird so zum Realitätenbesitz mit der Frage: "Wer bietet am meisten: Der Golfplatz, der Naturschutz (ÖPUL-Förderungsmittel), der Gewerbebetrieb oder andere?"

Neben dem Verkehr und der Landwirtschaft wird auch der Tourismus vom globalen Markt bestimmt. "Der globale Markt diktiert, gemacht wird allein das, was der Kunde verlangt, wir können keine Rahmenbedingungen, die von Innsbruck kommen, akzeptieren", so ein Seilbahnunternehmer in Sölden (Wintersaison 98/99: 1,6 Millionen Nächtigungen, 14.193 Betten, 3.324 Einwohner).

Tabu-Verletzungen Investiert wird in die technische Infrastruktur in mehrfacher Milliardenhöhe. Die Schifahrer gehen international gesehen in ihrer Zahl zurück, die Konkurrenz im Wintersport wird schärfer. Der Auftritt auf dem Markt muß spektakulär sein. Das ergibt in Summe eine Kapital-Eventspirale, angetrieben von den jeweiligen Megatrends mit dem Gesetz: Im nächsten Jahr noch größer und auffälliger. Da ein allgemeines Trendchaos herrscht (die Entwicklung der unzähligen Trends ist nicht vorhersehbar) und die Investitionen in die Hochrüstung der Wintersportindustrie enorm sind, wird meist nur bis zur nächsten Saison überlegt und geplant. Oder die Trends werden "chaotisch zusammengewürfelt, z. B. erotische TänzerInnen mit asiatisch gefärbtem Theater, das irgendwie buddhistisch anmutet, verknüpft." (Zeitschrift Saison Nr. 6/99).

So diktiert der globale Markt weiterhin, vom Transit-LKW im Inntal bis zur "Lust" an "Tabu-Verletzungen und politischen Unkorrektheiten etc." in Ischgl (Aloys).

Die Grundsatzfrage heißt: Wohin treibt Tirol? Dabei wird die Beantwortung folgender Frage von besonderer Bedeutung sein: Welche ethischen Orientierungswerte sind für die Gestaltung einer nachhaltigen Gesamtentwicklung richtungsweisend?

Der Autor istTiroler Landesumweltanwalt.

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