"Menschen werden marginalisiert"

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Das neoliberale Wirtschaftsmodell führe zu einem "gigantischen Plünderungsfeldzug gegen die Natur", ist der Wissenschafter Franz Josef Radermacher überzeugt. Als Initiator des "Global Marshall Plans" fordert er deshalb ein nachhaltigeres Wirtschaften - und zwar weltweit.

Die Furche: Neoliberale Vertreter meinen, Wachstum und Freihandel seien die besten Mittel im Kampf gegen die Armut in der Welt. Was stimmt daran nicht?

Franz Josef Radermacher: Ich denke auch, dass Wachstum zur Überwindung der Armut erforderlich ist. Es muss aber ein mit Nachhaltigkeit kompatibles Wachstum sein. Freihandel führt jedoch nicht zu einem solchen Wachstum. Insbesondere erzeugt der Freihandel nicht den größten Reichtum.

Die Furche: Wieso wird dieses Ziel im Freihandelsmodell nicht erreicht?

Radermacher: Das Problem der heutigen Globalisierung ist, dass sie sich hinter Wettbewerb und Effizienz verschanzt. Tatsächlich führt sie aber als globales ökonomisches Modell einen gigantischen Plünderungsfeldzug gegen die Natur. Sie verpulvert kurzfristig unsere Ressourcen und riskiert bis hin zum Klimakollaps die Stabilität der Biosphäre. Ein weiteres Element ist die Ausbeutung sozialer Strukturen. Extrem viele Menschen werden marginalisiert. In Form eines Neofeudalismus werden dem Staat die Mittel entzogen, um ein vernünftiges Sozialsystem aufrecht zu erhalten. Viel zu viele Menschen werden in Formen der Arbeit ohne hohe Wertschöpfung gedrückt. Dieses Modell erzielt nicht den höchsten Wohlstand.

Die Furche: Für wen ist es dann von Nutzen?

Radermacher: Es ist für gewisse Eliten, die das System kontrollieren, viel attraktiver als ein ausgeglichenes, reiches System. Erstens sind die Unterschiede zwischen Arm und Reich viel größer. Und zweitens werden in dieser "brasilianisierten" Struktur de facto auch die Rechte der Demokratie ausgehebelt. Eliten, die ein System kontrollieren wollen, brauchen eine Gesellschaft hoher Ungleichheit. Sie haben kein Interesse an einer reichen Gesellschaft, die nur zu haben ist unter Bedingungen der Balance. Das hieße nämlich, dass alle Menschen gut ausgebildet sind und in der Folge dann auch ihre politischen Rechte wahrnehmen können. Was wiederum zur Folge hat, dass die Eliten den politischen Prozess nicht beliebig kontrollieren können.

Die Furche: Wie schaffen es die Hauptprofiteure, trotzdem Akzeptanz für dieses Modell zu finden?

Radermacher: Wir sind gegenwärtig Zeugen eines gigantischen Propagandaprogramms, mit dem man den Eindruck zu vermitteln versucht, über Marktliberalismus würde der höchste Reichtum für alle produziert. Das stimmt aber nicht. Von Vorteil ist dieses Modell nur für eine reiche Minderheit. Allerdings sind die treibenden Eliten geschickt genug, ihre wahren Motive niemals öffentlich zu nennen. Sie tun immer so, als würden sie etwas anstreben, was alle anderen auch wollen, also Demokratie, Menschenrechte, Rechte für alle etc. In Wirklichkeit wollen sie aber genau das nicht. Die schwierigen Verhältnisse weltweit haben an dieser Stelle eine Basis.

Die Furche: Verteidiger der heutigen Form von Globalisierung verweisen gern auf China und Indien. Dort hat die Einbindung in die Weltwirtschaft für hohe Wachstumsraten gesorgt. Dieses Wachstum hat zumindest Teilen der Bevölkerung einen Weg aus der Armut ermöglicht.

Radermacher: Richtig ist daran, dass die Einbindung in globale Prozesse den schwächeren Ländern grundsätzlich Vorteile bringt. Aber die Marktfundamentalisten versuchen immer zu vermitteln, es gäbe keinen besseren Schritt. Dieser bessere Weg des ökosozialen Modells besteht darin, dass man diese Länder nicht nur in Freimarktverhältnisse einbindet, sondern dass man sich dabei auf bestimmte Regeln einigt. Eine solche Regel könnte sein: Wir wollen nicht, dass ein armes Land aus Wettbewerbsgründen seine Kinder arbeiten lässt. Damit die Kinder dort nicht mehr arbeiten müssen, sondern Schulen besuchen können, müssen wir den armen Ländern aber mit Querfinanzierungen helfen. Seine Leistungsfähigkeit beweist das ökosoziale Modell in jedem vernünftigen Staat und wird ebenso in den Erweiterungsprozessen der EU demonstriert, die genau nach dieser Logik ablaufen. Wenn man sich anschaut, was aus Spanien und aus Irland im Kontext der EU wurde, und sich heute vorstellt, was in 15 Jahren aus Polen und Ungarn geworden sein wird, dann hat man einen Beweis, dass dieses Modell das ökonomisch leistungsfähigste Modell ist.

Die Furche: Auf welche Weise sollen diese Mittel für die Querfinanzierung aufgebracht und wie sollen sie verteilt werden?

Radermacher: Für die Umsetzung eines Minimalprogramms, wie es in den UNO-Millenniumszielen formuliert ist, benötigt man pro Jahr 100 Milliarden Dollar zusätzlicher Mittel für Entwicklungszusammenarbeit. Das ist nicht so viel. Die Ausgaben für den Heimatschutz wurden seit dem September 2001 weltweit um denselben Betrag erhöht. Die erforderliche Summe könnte man durch Besteuerung globaler Transaktionen (Devisen, Handel, Logistik) aufbringen. Ein Musterbeispiel für effizienten Geldeinsatz sind die Kleinkredite der Grameen-Bank in Bangladesh. Diese Mikrokredite haben eine enorme Hebelwirkung.

Die Furche: Welche Rolle spielt dabei die "Global Marshall Plan" Initiative?

Radermacher: Diese Initiative ist primär ein intellektueller Beitrag, der versucht in der gegenwärtig sehr schwierigen Situation ein Art Minimalprogramm zu definieren. Dieses Programm hat eine hohe Rationalität und kann von den Akteuren, die in Wirklichkeit keine Veränderung wollen, nur schwer abgelehnt werden. Es geht aber auch um eine neue Aufklärung, welche die Bürger der sozialen Demokratien über die Bedingungen der gegenwärtigen Globalisierung informiert und aufzeigt, dass diese Bedingungen neuartig sind, problematisch und dass sie verändert werden können.

Die Furche: Wo haben Sie dabei Unterstützung und Partner gefunden?

Radermacher: In der Wirtschaft, in der Wissenschaft und in der Zivilgesellschaft. Und wir finden auch zunehmend Unterstützung auf politischer Ebene, vor allem in Österreich. Es gibt dazu explizite Beschlüsse von sieben Landesregierungen und der Landeshauptleutekonferenz. Das österreichische Parlament hat noch vor den Nationalratswahlen 2006 einen überparteilichen Beschluss bezüglich globaler Finanzierungsinstrumente gefasst. In Deutschland haben wir seit einem Monat die Unterstützung der Landesregierung von Thüringen. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel hat mehrfach wichtige Positionen der Initiative vertreten, vor allem bei ihren beiden Eröffnungsreden beim Weltwirtschaftsforum in Davos in 2005 und 2006.

Das Gespräch führte Karl Vogd.

Wirtschaftliches Wachstum ja, aber ökosozial

Rund 200-mal im Jahr hält Franz Josef Radermacher Vorträge. Rhetorisch brillant geißelt er darin die ungerechte Form der Globalisierung, welche die Menschen in die Armut treibt. Wortgewaltig warnt er vor einer drohenden "Brasilianisierung", also der extremen Spaltung in Arm und Reich. Radermachers Kritik findet Anklang, insbesondere bei den Betuchten. Wenn er Attacken gegen die Marktfundamentalisten reitet, wie etwa vor ein paar Wochen beim Informationstag der Wiener Versicherungsmakler, dann wird das auch vom bürgerlichem Publikum mit donnerndem Applaus quittiert. Dabei ist Radermacher kein Politiker, sondern nüchterner Wissenschafter. Der 1950 in Aachen geborene Mathematiker ist Chef des "Forschungsinstituts für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung" an der Universität Ulm. Eines seiner Forschungsgebiete ist die künstliche Intelligenz. Vor allem aber ist er Herz und Hirn der Initiative "Global Marshall Plan". Deren Anliegen: Wie dem zerstörten Europa nach dem II. Weltkrieg von den USA mit Billigkrediten unter die Arme gegriffen wurde, so sollen die reichen Staaten in den armen Ländern das finanzieren, was ohnehin bereits versprochen wurde: Die Umsetzung der UNO-Milleniumsziele. Seine Ideen hat Radermacher in einer Vielzahl von Artikeln und mehreren Büchern formuliert. Sein neues Buch "Welt mit Zukunft - Überleben im 21. Jahrhundert" ist soeben erschienen.

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